Sexualisierte Gewalt

Was tun nach einem Übergriff?

«Es gibt einen großen Handlungsbedarf, um Mädchen und Frauen – ebenso Jungen und Männer – vor sexueller Belästigung und vor Übergriffen zu schützen», sagt Sandy Hoffmann, Leiterin der Psychologischen Beratungsstelle in Kassel. An diese oder eine andere psychosoziale Beratungsstelle können sich Menschen in schwierigen Lebenssituationen wenden, beispielsweise wenn sie sexuelle Übergriffe erlebt haben. 

Ein Angebot, das gebraucht wird, denn z. B. mehr als jede zweite oder dritte Frau sei von sexueller Belästigung betroffen, darüber informiert der «Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe» (bff). «Wenn eine Frau mit sexistischen Äußerungen beleidigt, ungewollt berührt oder gar vergewaltigt wird, dann handelt es sich dabei um unterschiedliche Formen sexualisierter Gewalt, die völlig inakzeptabel sind», erklärt Sandy Hoffmann.

Orte sexueller Übergriffe: Familie, Bekanntenkreis und Öffentlichkeit

Betroffene von sexueller Gewalt, die sich an die Beratungsstelle wenden, erleben sexuelle Übergriffe in erster Linie innerhalb der eigenen Familie oder dem eigenen sozialen Umfeld, aber auch in Kirche oder Verein, Schule oder beim Singen oder Musizieren. Diese Wahrnehmung untermauert auch die Kriminalstatistik 2014 des Polizeipräsidiums Frankfurt. Danach standen 59,2 Prozent der Opfer in Beziehung zum Täter. Laut Sandy Hoffmann hätten viele Beratung Suchende bereits als Kinder sexuellen Missbrauch erfahren; eine weitere Gruppe von Frauen leide an Gewalt durch den eigenen Lebenspartner. Sandy Hoffmann macht deutlich: «Sexualisierte Gewalt kommt in allen sozialen Schichten vor. Die Täter sind Akademiker oder stammen aus einfachen Verhältnissen, sie haben Migrationshintergrund oder auch nicht. Ob es zu einer Anzeige kommt, ist von Fall zu Fall unterschiedlich und hängt an vielen Komponenten.» Die Beratungsstellen machen allerdings auch die Erfahrung, dass viele Delikte nicht angezeigt werden.

Was tun direkt nach einem sexuellen Übergriff?

Sich bewusst machen: Opfer tragen keine Schuld
Die entscheidende Haltung gegenüber und Information an die Betroffenen sexueller Übergriffe sind laut der Familientherapeutin Sandy Hoffmann entscheidend: «Das Fehlverhalten liegt auf der Seite des Täters, nicht auf der Seite des Opfers.» War der Rock vielleicht doch zu kurz? Quälende Fragen des Opfers nach der eigenen Schuld seien ganz klar mit «Nein“ zu beantworten.

Kontakte zu professionellen Ansprechpartnern – Hilfe holen
Wenn die betroffene Person die Tat anzeigen möchte oder sich in akuter Gefahr befindet: Die Nummer der Polizei lautet 110 (die Polizei kennt auch die Telefonnummern von Frauenhäusern und anderen Schutzorten). Eine betroffene Frau kann sich auch gleich an die zuständige Kripo wenden, z. B. für Kassel: +4956191031200 der -3121 im Polizeipräsidium Nordhessen).

Wenn die betroffene Person später Beratung sucht, um einen Überblick über ihr mögliches Vorgehen zu erhalten oder um sich auszusprechen, empfehlen wir die Hilfetelefone der EKD oder des Unabhängigen Beauftragten. Dort sitzen Fachleute am Telefon, die Sie gut beraten, anonym, kostenlos und vertraulich.

Weitere Kontaktmöglichkeiten:

Bei sexualisierter Gewalt im Internet und in sozialen Medien (Cybermobbing):

Nach schwerer sexualisierter Gewalt, z.B. nach einer Vergewaltigung, sollte auf jeden Fall die medizinische Soforthilfe (LINK s. u.) aufgesucht werden. Neben einer medizinischen Erstversorgung können dort auch Beweise für eine eventuelle spätere Anzeige erfolgen. Das Opfer der Straftat muss sich nicht auf eine Strafanzeige festlegen, aber die Grundlage für eine spätere Anzeige wird geschaffen: Medizinische Soforthilfe nach Vergewaltigung in den Kliniken Kassel, Marburg, Gießen, Fulda, Hanau, Gelnhausen, Frankenberg (www.soforthilfe-nach-vergewaltigung.de)

Erlebtes ansprechen und um Unterstützung bitten
Die Beraterin empfiehlt, über das Erlebte mit Menschen zu sprechen, denen sie vertrauen. «Betroffene Frau erleben es als hilfreich, wenn jemand ihren Erzählungen glaubt», erklärt Sandy Hoffmann. Möglich sei, ein Familienmitglied oder eine gute Freundin um Unterstützung bei der Suche nach Beratungsstellen oder um Begleitung dorthin zu bitten oder mit zur Polizei zu gehen, falls beispielsweise eine Anzeige dort aufgegeben werden soll.

Mit Unverständnis aus dem sozialen Umfeld rechnen
Hilfreich ist, wenn das soziale Umfeld mit Verständnis reagiert. Doch möglicherweise fühlen sich Familienmitglieder oder Freundinnen von der Nachricht über einen sexuellen Übergriff überfordert. Auch die Expertin der Diakonie ermutigt: «Manche Freundschaften und die Familie können und müssen das Erlebte nicht auffangen. Hier leisten Mitarbeitende in professionellen Beratungsstellen gute Unterstützung!»

Beratung aufsuchen, Trauma verarbeiten
«Viele Mädchen und Frauen machen die Erfahrung, dass ihnen niemand glaubt – dann fühlen sie sich, als ob an ihnen selbst etwas falsch ist, so Sandy Hoffmann.» Bei den Mitarbeitenden der Beratungsstellen und beim Frauennotruf finden die Frauen hingegen einfühlsame Ansprechpartnerinnen. Zudem sei die Erfahrung von sexualisierter Gewalt oft mit einer Traumatisierung verbunden. Denn je geringer die eigene Handlungsfähigkeit erlebt wird und je stärker können die Ohnmachtsgefühle sein, desto höher ist die Gefahr der Traumatisierung. Deshalb sollte das Erlebte professionell aufgearbeitet werden, um Langzeitfolgen zu minimieren oder zu vermeiden. Deshalb verweise die Beratungsstelle betroffenen Frauen bei Bedarf an ausgebildete Traumatherapeut:innen.

Anzeige bei der Polizei erstatten – das Für und Wider
„Grundsätzlich sollten Straftaten angezeigt werden», empfiehlt Sandy Hoffmann von der Psychologischen Beratungsstelle. Dies würden auch Betroffene sexualisierter Gewalt befürworten. Allerdings gebe es auch Gründe, die gegen eine Anzeige sprechen: beispielsweise fehlende Informationen, Befürchtungen, Ängste und die psychische und gesundheitliche Verfassung. Sandy Hoffmann verdeutlicht: «Niemand darf dies übergehen und Druck zu einer Anzeige machen. Jeder Fall ist individuell.» Leider komme dies im privaten Umfeld immer wieder vor.

Deshalb: «Nur die Betroffene selbst kann dies entscheiden – sie muss eine Anzeige und ein mögliches Verfahren wollen und durchstehen.» Denn, so Hoffmann: «Die betroffenen Frauen können nicht zwingend eine Verurteilung des Täters erwarten, die Beweisführung ist oft schwierig.» Deshalb raten sie, in einem juristischen Verfahren dringend zu einer anwaltlichen Unterstützung und einer kompetenten Begleitung. (Übersicht von Opferberatungsstellen beim Hessischen Ministerium der Justiz und WEISSER RING e.V. - Hilfe für Menschen, die von Straftaten betroffen sind)

Sich Gutes tun
«Wenn das Vertrauen in die eigene Sicherheit erschüttert ist, hilft es darüber zu reden und auch sonst alles zu tun, was gut tut», empfiehlt Sandy Hoffmann. Auch ein Selbstverteidigungskurs kann Unterstützung bieten – aber nicht, um als Frau die Verantwortung für den eigenen Schutz zu übernehmen. «Das Gefühl, sich unbeschwerter im öffentlichen Raum bewegen zu können, kann durch solche Kurse gestärkt werden.»

Weiteres Vorgehen klären, Vermittlung an Experten
Die psychosoziale Beratung, z. B. in der Psychologischen Beratungsstelle in Kassel, hat einen ganzheitlichen Blick auf die Notlage. Je nach Bedürfnis des ratsuchenden Menschen verweisen die Beraterinnen gegebenenfalls an Rechtsanwälte, vermitteln zu speziell ausgebildeten Therapeut:innen weiter immer in enger Absprache mit der Klient:in. Denn jedes Beratungsgespräch unterliegt erstmal der Schweigepflicht und jede Beratung kann auch anonym durchgeführt werden.

Vorbeugender Schutz vor sexuellen Übergriffen

„Es liegt nicht am Verhalten und Auftreten einer Frau, dass es zu einem sexuellen Übergriff gekommen ist“, erklärt Sandy Hoffmann. Sie betont: „Der Täter ist der Verantwortliche!“ In einer Mitteilung äußert sich der bff (Link Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe) deshalb auch vorsichtig zu vorbeugenden Verhaltenstipps für Frauen. Denn oft spiele Angst in einer bedrohlichen Situation eine Rolle und ein planvolles Handeln sei kaum möglich. Zudem bergen Ratschläge die Gefahr, dass sich Betroffene nach einem Übergriff für ihr vermeintlich falsches Verhalten schämen. Dennoch erachtet der bff für sinnvoll: bei drohenden Übergriffen im öffentlichen Raum andere Anwesende direkt ansprechen oder die Polizei rufen: 110

Und die Männer?

„Es gibt auch Jungen, die Opfer sexueller Gewalt werden“, erklärt Hoffmann. Sexualisierte Gewalt ist mit dem Thema Macht verbunden und deshalb seien davon Schwächere betroffen, wie auch Kinder. Laut Bundeskriminalstatistik von 2014 waren 79,8 Prozent der ermittelten Tatverdächtigen der Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung männlich, d.h. ca. 20 Prozent der Täter sind Frauen.

(Dieser Inhalt basiert auf einem Text der EKHN zum Thema «Hilfe nach einem sexuellen Übergriff»)