Redaktion ekkw.de
Veröffentlicht 19 Jul 2018

Bischof Prof. Dr. Martin Hein stellte sich den Fragen von Maik Zeisberg/HNA. Das Interview erschien auf HNA Online am 18.07.2018.

Martin Hein, Bischof der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck und Mitglied des Deutschen Ethikrats, begrüßt den Erlass, keine tödlichen Medikamente an Sterbewillige auszugeben. 

Die Briefe, die über Leben und Tod entscheiden, kamen nie. Mehr als ein Jahr warteten knapp 100 Schwerstkranke auf Post vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Sie hatten Anträge auf den Erhalt todbringender Medikamente gestellt, um ihr Leiden zu beenden, und beriefen sich auf ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts von 2017, das eben das erlaubte. Gesundheitsminister Jens Spahn hat die Behörde nun angewiesen, die Anträge abzulehnen. Darf er das? Ein Interview mit Martin Hein, Bischof der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck und Mitglied des Deutschen Ethikrats.

HNA: Gibt es Lebenssituationen, in denen der Wunsch zu sterben gerechtfertigt ist?

Bischof Hein: Ich will über die einzelne Entscheidung eines Menschen, sterben zu wollen, überhaupt nicht urteilen. Es gibt sicher Situationen, in denen der Wunsch naheliegt.

HNA: Das Bundesverwaltungsgericht hat 2017 entschieden, dass der Staat Sterbewilligen in «extremen Notlagen» Medikamente zur Selbsttötung bereitstellen muss. Wie bewertet der Deutsche Ethikrat das Urteil?

Bischof Hein: Die Mehrheitsposition des deutschen Ethikrates hält die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes mit den Grundwertungen des parlamentarischen Gesetzgebers, auf denen die Neuregelung des Paragraphen 217 des Strafgesetzbuchs beruht, für nicht vereinbar. Mit diesem Urteil gerät das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in die Lage, darüber zu entscheiden, was «extreme Notfälle» sind. Das kann keine Bundesbehörde tun. Der Ethikrat plädiert daher für die Stärkung von palliativen Einrichtungen und Hospizen.

HNA: Paragraph 217 verbietet die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung. Davon wären die Behörden nicht betroffen.

Bischof Hein: Zunächst nicht. Aber im Zusammenhang mit den Diskussionen um den Paragraphen 217 ist man bewusst davon abgegangen, die «extremen Notlagen» zu definieren. Und zwar, weil es dann eine gesetzliche Möglichkeit der Öffnung des assistierten Suizides in breiterer Weise gegeben hätte. Ich glaube, dass bei genau umschriebenen «extremen Notlagen» der Staat in die Pflicht geriete, seinerseits todbringende Medikamente zur Verfügung stellen zu müssen. Das möchte der Gesundheitsminister verhindern. Deswegen hat er vom Nichtanwendungserlass Gebrauch gemacht. Dagegen sind schon mehrere Verfassungsbeschwerden eingereicht worden.

HNA: Wie wird sich der Streit vor dem Bundesverfassungsgericht weiterentwickeln?

Bischof Hein: Das BfArM hat bereits ein Gutachten bei dem früheren Verfassungsrichter Udo Di Fabio angefragt, der zu dem Schluss kommt, dass das Urteil der Bundesverwaltungsrichter verfassungsrechtlich nicht haltbar sei. Nun kann man kritisch einwenden, bei Gutachten ist es meistens so, dass man sie sich von Gutachtern erbittet, die die Grundpositionen teilen, die man selbst hat. Andererseits ist Di Fabio nicht irgendwer, sodass ich davon ausgehe, dass die Regelung des Bundesverwaltungsgerichts vor dem Bundesverfassungsgericht keinen Bestand hat und dass man in jedem Falle nicht dazu kommen wird, das BfArM darüber entscheiden zu lassen, welchen todkranken Menschen todbringende Medikamente zur Verfügung gestellt werden und welchen nicht. Das kann solch ein Bundesinstitut, das für ganz andere Aufgaben da ist, im Grunde nicht leisten.

HNA: Hat der Bundesgesundheitsminister durch seinen Nichtanwendungserlass die Behördenmitarbeiter in eine rechtliche Zwickmühle gebracht?

Bischof Hein: Nein, das ist ein legitimes Verfahren. Die Behörde hat sich an den Erlass des Ministeriums zu halten. Jetzt geht es darum, abzuwarten, wie das Bundesverfassungsgericht dies beurteilt. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass im Einzelfall aufgrund einer frei verantworteten Entscheidung eines Menschen der Arzt ihm ein todbringendes Medikament zur Verfügung stellt.

HNA: Wer sollte die Entscheidung über die Vergabe todbringender Medikamente treffen?

Hein: Wenn, dann ist die persönliche Beziehung von Arzt und Patient der geeignete Ort. Anders kann ich mir das gar nicht vorstellen. Die Neufassung des Paragraphen 217 stellt ja nicht die Assistenz zur Selbsttötung an sich in Frage, sondern wendet sich gegen die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung. Eine medizinisch indizierte Assistenz zum Suizid ist nicht prinzipiell ausgeschlossen. Das Problem besteht darin, dass mit dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts Menschen das Recht einfordern, todbringende Medikamente zugeteilt zu bekommen, und dass die Entscheidung darüber eine Behörde trifft. Das war vom Gesetzgeber so nicht intendiert.

HNA: In manchen Fällen muss der Staat bereits die Entscheidung zwischen Leben und Tod legitimieren. Beispielsweise bei Komapatienten ohne Patientenverfügung, wo erst ein Betreuungsgericht den Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen genehmigen muss.

Bischof Hein: Es kommt darauf an, in welcher Situation sich der komatöse Patient befindet. In aller erster Linie ist es eine Entscheidung, aus der der Staat sich tunlichst heraushalten sollte, weil der Staat zwar nicht wertfrei ist, aber weltanschaulich neutral. Das heißt also, wenn Menschen sagen, wir beenden die künstliche Versorgung des Komapatienten, dann ist das keine staatliche Entscheidung, sondern eine Entscheidung zwischen ärztlichem Personal und Angehörigen und nur dann, wenn überhaupt kein Angehöriger greifbar ist, muss der Staat auf dem Wege einer Ersatzvornahme überhaupt tätig werden. Ich finde, der Staat sollte sich aus diesen Regelungen insgesamt weitgehend zurückhalten.

HNA: Wie hat sich die palliativmedizinische Betreuung in Deutschland entwickelt?

Bischof Hein: Sie ist deutlich verbessert worden. Als ich im Jahr 2000 Bischof wurde, gab es nur einen einzigen Lehrstuhl an Medizinischen Fakultäten zur Palliativmedizin. Inzwischen ist das viel weiter fortgeschritten. Schmerztherapie und Schmerzmedizin sind nicht nur bei Menschen wesentlich, die im Sterbeprozess sind, sondern es gibt eine Fülle von anderen Schmerzen, die man als ansonsten gesunder Mensch ertragen muss. In dieser Hinsicht geschieht bereits viel, aber es muss noch mehr gemacht werden. In der vergangenen Woche habe ich das Hospiz Kellerwald im Schwalm-Eder-Kreis besucht und gesehen, in welch intensiver Weise Menschen, die auf den Tod zugehen, dort betreut werden, sodass sie auch diese Zeit als lebenswert erleben.

HNA: Hat die immer restriktivere Gesetzgebung zur Sterbehilfe den «Sterbetourismus» ins EU-Ausland verstärkt?

Bischof Hein: Das ist so. Man muss mit diesem «Tourismus» leben. Das heißt aber nicht, sich in allen ethischen Fragen europäisch angleichen zu müssen. Es gibt bei der Abtreibung höchst unterschiedliche gesetzliche Regelungen in Europa; es gibt auch hinsichtlich der Assistenz zum Suizid oder der bewussten Herbeiführung einer Tötung auf eigenen Wunsch hin in Belgien und den Niederlanden abweichende Regelungen. Man wird mit dem Hinweis darauf, es sei irgendwo anders erlaubt, nicht unmittelbar folgern, dann könnten wir es bei uns einführen. Man muss in Europa mit einer unterschiedlichen kulturellen Prägung leben.

HNA: Was empfehlen Sie den Antragstellern, die auf die Medikamente gehofft hatten?

Bischof Hein: Dass sie diese Situation durch intensive palliative Begleitung bewältigen. Es gibt hier viele Möglichkeiten. Die Selbsttötung muss nicht am Ende des Lebens stehen, selbst bei Todkranken nicht.

So funktioniert ein Nichtanwendungserlass

Nichtanwendungserlasse kommen in der Regel bei finanzgerichtlichen Urteilen zum Einsatz. Behörden richten sich häufig nach höchstrichterlichen Urteilen, die in vergleichbaren Fällen getroffen wurden. Das ist aber nicht verbindlich. Gerichtliche Entscheidungen gelten nur für die direkten Streitbeteiligten. Eine Ausnahme bildet hier das Bundesverfassungsgericht. Dessen Urteile haben auch über den konkreten Fall hinaus eine rechtliche Bindungswirkung. Mit einem Nichtanwendungserlass können Ministerien die Verwaltung anweisen, bestimmte Urteile nicht zu beachten. Das ist nur möglich, wenn die Behörde dadurch nicht von ihrer bisherigen Rechtspraxis abweicht. Nichtanwendungserlasse sind verfassungspolitisch umstritten. Kritiker führen an, dass sie die justizielle Autorität untergraben und der Rechtssicherheit schaden. (19.07.2018)