Redaktion ekkw.de
Veröffentlicht 10 Jun 2016

Kassel (medio). Anlässlich des zehnten Jahrestages der Ermordung des Kasseler Bürgers Halit Yozgat durch den rechtsextremen «Nationalsozialistischen Untergrund» (NSU) fand am 1. Juni die Tagung «Leerstelle Rassismus – NSU und die Folgen» in Kassel statt. Rund 100 Fachleute erörterten Strukturen rassistischer Ausgrenzung und Fragen der Integration von Menschen mit Rassismuserfahrung. Im Fall des Mordes an Halit Yozgat im April 2006 blieben die tatsächlichen rassistischen und rechtsextremen Motive lange Zeit unerkannt, so die Veranstalter. Die in diese Richtung geäußerten Vermutungen von Angehörigen spielten in den Ermittlungen wie auch in den Medien und damit in der öffentlichen Wahrnehmung kaum eine Rolle. Der Rassismus blieb damit für große Teile der Gesellschaft eine «Leerstelle». Wie es dazu kommen konnte und welche Lehren sich daraus ableiten lassen, waren die zentralen Fragen, mit denen sich die Teilnehmer auf dem Fachtag im Haus der Kirche in Kassel in Vorträgen, Workshops und einer Podiumsdiskussion beschäftigten.

In seiner Begrüßung erläuterte der Leiter des Demokratiezentrums Hessen, Dr. Reiner Becker, wie zahlreiche Studien aus den letzten Jahren belegten, dass rechtsextremistische Einstellungen vermehrt in der Mitte der Gesellschaft angekommen seien. Die Perspektiven der Betroffenen würden weniger wahrgenommen und oft von der Beschäftigung mit den Tätern überdeckt: «Die Täter der NSU stehen im Rampenlicht, nicht die Opfer.» Hier gebe es eine Leerstelle. Der Anstieg von Gewalt gegenüber Flüchtlingen, Kommunalpolitikern oder Journalisten zeige, dass der Rechtsterrorismus wachse. «Wir müssen achtsam und sehr aufmerksam sein, in der neuen sozialen Bewegung von rechts steckt sehr viel Kraft», mahnte Becker. Bewusst überspitzt könne man formulieren: «Der NSU gehört zu Deutschland».

Die Pröpstin des Sprengels Kassel Katrin Wienold-Hocke sagte in ihrem Grußwort, dass das Engagement gegen rechts Netzwerke, Prävention, Intervention und Beratung brauche. «Die Wahrnehmung alltäglichen Rassismus' bedarf mehr Aufmerksamkeit», so die Pröpstin. Die Gesellschaft müsse miteinander deutlich Position beziehen.

Im Eingangsvortrag untersuchte Prof. Dr. Fabian Virchow von der Hochschule Düsseldorf den Zusammenhang von Sprache und Rassismus. Sprache stelle die Begriffe bereit, in denen wir denken, und Sprache sei letztlich Macht. Rechte Kampfbegriffe wie «Volkstod», «Verausländerung» oder «Überfremdung» transportierten ein völkisches Weltbild. Auf der anderen Seite würden von Rechtsextremismus Betroffene wie die Angehörigen der NSU Morde mit dem, was sie sagen, oft nicht ernst genommen oder stigmatisiert. Man könne beobachten, wie im NSU-Prozess die Berichterstattung den Aussagen der Ermittlungsbehörden in unkritischer Weise folge.

Nach dem Kurzfilm «Keiner kann garantieren, dass es nicht noch einmal passiert …», der dokumentiert, wie Angehörige und Betroffene mit dem NSU-Prozess umgehen, wurden in einer Podiumsdiskussion mit Vertretern aus Kassel die Folgen des NSU-Mordes am Kasseler Bürger Halit Yozgat erörtert und die Frage diskutiert, wie die Tat die nordhessische Stadt verändert hat. Die zum Teil lebhafte, auch vom Publikum emotional geführte Debatte zeigte klare Kontroversen auf und belegte, wie in Kassel die Frage einer angemessenen und gemeinsamen Aufarbeitung des NSU-Mordes nach wie vor umstritten diskutiert wird.

Veranstalter der Tagung waren in Kooperation die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck (EKKW), das «Mobile Beratungsteam Hessen» (MBT) in Kassel sowie das an der Uni Marburg ansässige Demokratiezentrum Hessen im «beratungsNetzwerks hessen – gemeinsam für Demokratie und gegen Rechtsextremismus». (10.06.2016)