Blick über die zerstörte Altstadt mit Martinskirche und Druselturm in Richtung Bettenhausen. (Foto: Stadtarchiv Kassel)

Blick über die zerstörte Altstadt mit Martinskirche und Druselturm in Richtung Bettenhausen. (Foto: Stadtarchiv Kassel)

Redaktion ekkw.de
Veröffentlicht 18 Okt 2018

Kassel (medio/epd). Mit einem Gottesdienst, einer Kranzniederlegung sowie einer Gedenkveranstaltung ist am Montag, 22. Oktober, in Kassel an den 75. Jahrestag der Bombardierung der Stadt erinnert worden. Eröffnet wurde das Gedenken um 14 Uhr mit einer gemeinsamen Kranzniederlegung der Stadt und des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge am Ehrenmal für die Bombenopfer auf dem Hauptfriedhof. Um 18 Uhr fand in der Martinskirche eine Gedenkveranstaltung unter dem Motto «Erinnern und Versöhnen» mit Filmen, Musik und Vorträgen statt. Danach folgte um 19.30 Uhr ein ökumenischer Gottesdienst mit dem Bischof der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, Prof. Dr. Martin Hein, und dem katholischen Dechanten Harald Fischer (Kassel).

Bischof Hein: Beginn des zweiten Weltkrieges war ein planvoller Akt der Aggression

«Wir hatten die Ohren verschlossen, die Stimmen der wenigen Mahner überhört oder mundtot gemacht.» So eröffnete Bischof Hein seine Predigt anlässlich des 75. Jahrestages der Zerstörung Kassels. Umso bereitwilliger habe man die Ohren geöffnet für die Propaganda, mit der Joseph Goebbels ebenfalls vor 75 Jahren im Berliner Sportpalast vor 15.000 Deutschen den «totalen Krieg» heraufbeschwor. Der Bischof bekannte, dass abgesehen von Wenigen auch die Kirchen in dieser Zeit ihre Ohren verschlossen hatten und auch sie sich besinnen und in den Ruinen der restlos zerstörten Kirchengebäude neu beginnen mussten.

Hein erinnerte daran, dass bereits zehn Jahre zuvor eine systematische Ausgrenzung und schließlich millionenfache Ermordung von Menschen jüdischen Glaubens, die Verfolgung und Tötung politisch Andersdenkender und die Einschüchterung der schweigenden Mehrheit begonnen hatte. Er betonte, der Beginn des Zweiten Weltkriegs sei kein Schicksal, sondern ein planvoller Akt der Aggression gewesen.

Trotz des Aufschwungs in den vergangenen Jahrzehnten: «Kassel ist eine versehrte Stadt»

Doch der Krieg, den Deutsche in die Welt gebracht hatten, sei zurückgekommen und habe sich gegen die Verursacher gekehrt. Dies sei in Kassel deutlich damals sichtbar und spürbar, wo vor 75 Jahren innerhalb von 22 Minuten das mittelalterliche Stadtbild in Flammen aufging. Der Bischof erinnerte daran, dass schätzungsweise sieben- bis zehntausend Menschen in dieser Nacht ums Leben kamen und die alte Stadt unwiederbringlich unterging: «Die Narben sind bis heute zu sehen und zu spüren. Trotz allen Aufschwungs während der vergangenen Jahrzehnte: Kassel ist eine versehrte Stadt. Und niemand, der hierherkommt, kann der deutschen Unheilsgeschichte seit 1933 ausweichen.»

Weltfriedensordnung steht auch 75 Jahre später noch aus

Auch 75 Jahre nach der Bombennacht sei es nicht gelungen, die Ohren für Gottes Botschaft vom Frieden und der Gerechtigkeit für alle Menschen zu öffnen und zu einer Weltfriedensordnung zu gelangen. Politische, militärische und wirtschaftliche Interessenslagen hätten die Machthaber immer wieder mit dem Gedanken des Krieges spielen lassen und zu Tod und Zerstörung geführt: Korea, Vietnam, Kambodscha, Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Syrien, Jemen, Ukraine, Myanmar oder jetzt der Kamerun.

«Das Geschäft mit dem Krieg und den Waffen, die dafür erforderlich sind, blüht – auch hier in Kassel!»

Der Bischof stellte deutlich heraus, dass man insbesondere in Kassel nicht behaupten könne, es seien immer die Anderen, die dafür verantwortlich seien, und auf die man dann selbstgerecht mit dem Finger zeigen könne. Kriege seien auch ein Geschäft, «und das Geschäft mit dem Krieg und den Waffen, die dafür erforderlich sind, blüht – auch hier in Kassel!» so Hein wörtlich. 1943 sei Kassel aufgrund seiner erheblichen Rüstungsproduktion Ziel der britischen Angriffe gewesen, und in dieser Tradition stehe die Stadt bis heute: «Und es ist für mich eine Frage politischer Moral, dass wir uns das in aller Ehrlichkeit bewusstmachen.» Die Stadtgesellschaft müsse sich eingestehen, «dass wir auf die Frage nach der Rüstungsproduktion in Kassel keine gemeinsame und von allen getragene Antwort haben!»

Appell zur Abgrenzung von rechtspopulistischen und antisemitischen Tendenzen

Der Bischof appellierte an die Stadtgesellschaft, sich in aller Deutlichkeit von öffentlichen rechtspopulistischen oder antisemitischen Tendenzen abzugrenzen und klar dagegen Stellung zu beziehen. Gemeinsamer Auftrag der christlichen Kirchen sei es in Zeiten rechter Parolen, auf die Friedensbotschaft zu hören und sie gegen inzwischen wieder salonfähige «Hate Speeches» zu vertreten: «Jeder Gottesdienst, den wir feiern, ist darum ein Friedensgottesdienst! Denn jeder Gottesdienst steht unter der Ansage des Friedens Gottes, der «mit uns allen sei», und er endet mit der Segensbitte, dass Gott uns Frieden schenke. Die Besinnung auf das, was er uns sagt, ist unser allererster Beitrag zum Frieden. Daraus folgt ein mutiges, überzeugendes Reden und Handeln für den Frieden unter uns und in der Welt.»

Zeitzeugen berichten im Video von den Ereignissen in der Nacht des 22. Oktober 1943. (Video: HNA)

Stadtweites Glockengeläut ab 20.44 Uhr

Im Anschluss an den Gottesdienst läuteten die Osanna-Glocke der Martinskirche sowie weitere Glocken im Stadtgebiet ab 20.44 Uhr zehn Minuten lang. Zu diesem Zeitpunkt begann 1943 der Bombenangriff, bei dem über 400.000 Sprengkörper auf Kassel abgeworfen wurden. 10.000 Menschen fanden bei dem Angriff den Tod, große Teile der Stadt wurden weitgehend verwüstet. Bis heute werden immer noch Blindgänger im Stadtgebiet entdeckt, so zuletzt vor wenigen Wochen auf der Baustelle der Evangelischen Bank in der Innenstadt.

Geläut der Osanna-Glocke der Martinskirche. (Foto und Aufnahme: medio.tv/Schauderna)

Ereignis apokalyptischen Ausmaßes - Bombardierung Kassels entfachte Feuersturm

Es war ein Ereignis mit geradezu apokalyptischem Ausmaß, das Kassel im Zweiten Weltkrieg heimsuchte: das Flächenbombardement vom 22. Oktober 1943. Um 20.17 Uhr warnten die Sirenen die rund 225.000 Menschen in der Stadt, nur wenige Minuten später griffen die alliierten Fliegerverbände an, heißt es auf den Internetseiten des Stadtportals Kassel über die Zerstörung der Stadt. Binnen eineinhalb Stunden hatten etwa 500 Flugzeuge mehr als 400.000 Brandbomben abgeworfen - das sind in bestimmen Arealen der Altstadt zwei pro Quadratmeter gewesen. Und der riesige nächtliche Feuerschein war noch aus über 50 Kilometern Entfernung sichtbar.

Kassel war nach diesem Angriff nicht mehr dieselbe Stadt: 85 Prozent der Wohnungen und 65 Prozent der Industrieanlagen waren zerstört. Der in der mittelalterlichen Altstadt entfachte Feuersturm, vernichtete 97 Prozent der größtenteils aus Fachwerk bestehenden Häuser. Die Opferzahlen wurden mit bis zu 10.000 Toten angegeben, hinzu kamen unzählige Verletzte. Das Ausmaß des körperlichen und seelischen Leides in jener Bombennacht ist aus heutiger Sicht unvorstellbar. Fast jeder, der die Bombardierung überlebte, hatte Angehörige oder Freunde verloren. Die meisten der Einwohnerinnen und Einwohner hatten ihr Hab und Gut verloren. (23.10.2018)

Blick über die zerstörte Altstadt von Kassel. (Foto: Stadtarchiv Kassel)

Blick über die zerstörte Altstadt von Kassel. (Foto: Stadtarchiv Kassel)

Im Wortlaut:

Lesen Sie hier die Predigt von Bischof Martin Hein im Gedenkgottesdienst am 22. Oktober 2018 im Wortlaut:

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Linktipp:

Weitere Informationen zur Bombennacht in Kassel am 22. Oktober 1943 unter:

kassel.de/stadt/geschichte