blick in die kirche / Beate Hofmann, Olaf Dellit
Veröffentlicht 23 Mär 2024

Es ist die Geschichte eines Mannes, der von Jerusalem nach Jericho reiste. Das war eine sehr gefährliche Reise durch die Wüste. Auf seiner Reise wurde der Mann ausgeraubt und geschlagen. Halb tot lag er neben der Straße. Er war schwer verwundet und es war niemand da, der ihm helfen konnte. Dann kam ein Priester, sah ihn an – und eilte weiter zum Tempel in Jerusalem, wo er etwas zu tun hatte. Der nächste, der kam, war ein Levit, ein Beamter im Tempel. Er sah ihn – und er ging auch weiter, um sich um seine Geschäfte zu kümmern. Er hatte kein Auge für die Not des Verwundeten.

Der dritte, der kam, war ein Mann aus Samaria, ein Mensch aus einer anderen ethnischen Gemeinschaft, mit einer anderen Art des Glaubens. Ein Fremder. Er kam und sah; und das, was er sah, bewegte ihn. Dieser Moment veränderte alles. Das ist der erste Teil der Liebe:

1. Du siehst, und du lässt dein Herz berühren.

Du schaust nicht weg, sondern du siehst, was nötig ist. Der Samariter hält seinen Esel an und kümmert sich um die Wunden des Mannes, der ausgeraubt und geschlagen wurde. Er benutzt Wein, um die Wunden zu desinfizieren, und Öl, um den Schmerz zu lindern und die Heilung zu unterstützen. Das war die Art und Weise, wie man zu seiner Zeit jemanden professionell behandelt hat, der schwer verwundet war. Dies ist der zweite Teil der Liebe:

2. Du tust, was notwendig ist und was gebraucht wird.

Hier ist es offensichtlich, was nötig ist. Die Wunden bluten und der Mann hat Schmerzen. In anderen Fällen fragt Jesus die Menschen, die ihn um Hilfe bitten: Was kann ich für dich tun? Ich denke, das ist der zweite Teil der Liebe: Nicht ich bin es, der weiß, was der andere braucht und will. Ich muss fragen. Ich weiß es nicht besser.

Der dritte Teil der Liebe in dieser Geschichte ist: Der Samariter setzt den verwundeten Mann auf seinen Esel, um ihn aus dieser gefährlichen Situation wegzutragen. Auch das ist ein wichtiger Aspekt der Liebe:

3. Du veränderst eine bedrohliche Situation.

Zum Beispiel: Wie können wir Frauen helfen, die geschlagen werden, oder Kindern, die missbraucht werden? Es reicht nicht aus, ihre Wunden zu versorgen. Man muss die Gewalt und den Missbrauch beenden. Entweder man hilft der Person, die geschlagen wird, der Gewaltsituation zu entkommen, oder man zwingt die Person, die schlägt, die Gewalt zu beenden.

Es gibt noch einen vierten Teil dieser Geschichte. Der Samariter brachte den Verwundeten in eine Herberge und kümmerte sich dort um ihn. Eine Herberge, ein Hotel, ist vielleicht nicht der Ort, an dem Sie einen Verletzten unterbringen würden. Zur Zeit Jesu waren diese Orte in der Wüste sichere Orte mit vielen Aufgaben. Sie waren der Gastfreundschaft verpflichtet und taten alles, was für die Person, die kam, notwendig war.

Diese absolute Haltung der Gastfreundschaft gegenüber Fremden ist mir in Indien sehr oft begegnet. Wir hatten in der Nähe von Hospet eine solche Begegnung. Es war schon dunkel, es war eine Gegend, in die ich als Frau nicht allein gehen würde. Doch sobald das Auto anhielt, öffneten sich die Türen, und da war eine Kirche: geschmückt und voller Licht. Die Menschen hießen uns von ganzem Herzen willkommen, sie begrüßten uns und ehrten uns, sie sangen und tanzten für uns, sie teilten Essen mit uns und kümmerten sich um uns. Das war für uns eine wunderbare Erfahrung von Liebe und Gastfreundschaft. Liebe kann also auch bedeuten:

4. Du hilfst, Orte zu schaffen, an denen Menschen sicher und willkommen sind.

Orte, an denen sie sich angenommen und geschätzt fühlen, egal woher sie kommen und was sie für dich tun können. Schließlich gibt es noch einen fünften Aspekt der Liebe in dieser Geschichte: Am nächsten Morgen gibt der Samariter dem Gastwirt etwas Geld und überlässt den Verwundeten seiner Obhut. Der Samariter selbst setzt seine Reise fort, um seine Geschäfte zu erledigen. Aber er verspricht, dass er wiederkommen und, wenn nötig, mehr bezahlen würde, damit der Mann geheilt wird. Warum ist das ein Aspekt der Liebe?

Für mich ist es wichtig, dass der Samariter nicht bei dem Verwundeten bleibt und dass er seine eigenen Pläne nicht aufgibt. Wenn er tagelang dort geblieben wäre, hätte das eine starke Abhängigkeit geschaffen. Der Verwundete würde sich beschämt fühlen. Er hätte das Gefühl, dass er dem Mann und seiner unendlichen Liebe viel zu verdanken hätte. Die Entscheidung des Samariters, den Verwundeten in die Obhut einer anderen Person zu geben, begrenzt das Gefühl der Abhängigkeit. Es ist eine Art, die Würde des Verwundeten zu ehren. Der Evangelist Paulus sagt: «Entehrt nicht die anderen.» Der fünfte Aspekt der Liebe ist also:

5. Du weißt, wann es genug ist.

Eltern müssen diese Lektion manchmal lernen, wenn sie ihre Kinder loslassen müssen, um ihnen zu erlauben, ihr eigenes Leben zu leben und ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, auch wenn man sie für falsch hält. Liebe ist geduldig, so formuliert es Paulus in seinem Brief.

Nun gibt es einen letzten Clou in der Geschichte des Samariters. Am Ende fragt Jesus die Zuhörenden: Wer von diesen dreien, meint ihr, hat sich als der Nächste des Mannes erwiesen, der unter die Räuber gefallen ist?

Mit dieser Frage kehrt Jesus zu der Frage vom Anfang zurück, aber er dreht sie um, indem er auf uns selbst verweist: Für wen bin ich ein Nächster? Wo habe ich eine Not gesehen und auf eine Situation reagiert, die Liebe brauchte? Dieser Perspektivwechsel lehrt uns einige Dinge: Es gibt kein Ende der Liebe. Die christliche Liebe hört nicht auf, wenn es um Außenseiter geht, um Menschen aus anderen ethnischen Gruppen oder anderen Religionen.

Das Gleichnis lehrt mich auch: Wenn du dich von all den Pflichten und Verpflichtungen, die du als Christ oder Christin hast, überfordert fühlst; wenn du versuchst, herauszufinden, was von dir erwartet wird und was nicht, dann mach es nicht zu kompliziert. Es genügt, wenn du das tust, was direkt vor dir liegt und gebraucht wird.

Es ist genug, wenn du mit offenen Augen und offenem Herzen lebst und auf das reagierst, was du siehst. Das ist der Anfang der Liebe. 

Im Wortlaut
Portraitfoto von Bischöfin Dr. Beate Hofmann

Gekürzte und bearbeitete Fassung einer Predigt, die Bischöfin Dr. Beate Hofmann im Januar 2024 in der St. Andrews Church in Hubli/Indien gehalten hat. Die Landeskirche pflegt eine Partnerschaft mit der dortigen evangelischen Kirche.

Das Gleichnis

Die Geschichte vom barmherzigen Samariter ist das vielleicht bekannteste Gleichnis der Bibel. Unter Gleichnis versteht man eine Geschichte, mit der eine Botschaft illustriert oder etwas erklärt werden soll. Jesus nutzte sie häufig in seinen Reden. Manche Gleichnisse sind bis heute in der Alltagssprache geläufig, etwa der Begriff, etwas sei «auf Sand» gebaut, wenn ein Fundament fehlt – bei Jesus ein Bild dafür, dass es wichtig sei, seine Lehre nicht nur zu hören, sondern auch in die Tat umzusetzen. Sonst baue man sein Haus nur auf Sand, der bei der nächsten Flut fortgespült werde.

Die Geschichte vom barmherzigen Samariter ist so eindrücklich, dass sie auch in Kunst und Kultur Niederschlag fand. So wurde er im berühmten Evangeliar Heinrichs des Löwen aus dem 12. Jahrhundert dargestellt, das sich heute in der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel befindet. Auch Rembrandt van Rijn, Vincent van Gogh und Paula Modersohn-Becker haben, wie viele vor und nach ihnen, den Samariter auf Bildern verewigt. In den Tuilerien, einem berühmten Park in Paris, kann man eine Samariter-Statue entdecken. Der Samariter prägt die Kultur bis in die Neuzeit, unter anderem in Bob Dylans Song «Desolation Row».

Der fürsorgliche Samariter hat mit seiner sprichwörtlichen Nächstenliebe aber auch bis heute Spuren im sozialen Bereich hinterlassen, weit über religiöse Grenzen hinaus. Man denke nur an den Arbeiter-Samariter-Bund, der traditionell der Sozialdemokratie und der Arbeiterbewegung nahesteht. Für den ASB arbeiten in Deutschland mehr als 40.000 Haupt- und 20.000 Ehrenamtliche, unter anderem in der Notfallrettung.

Vom Kriminalroman über Kinderbücher bis zu einer Heldenfigur im Actionfilm, der Samariter ist bis heute sehr lebendig. (Quelle u.a. Wikipedia)

Titelblatt der Ausgabe Nächstenliebe von blick in die kirche
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