Schlagfertig: Ferdaws (links) beim Boxtraining mit Antje Heigl im Keller des Jugendzentrums in Hanau-Kesselstadt

Schlagfertig: Ferdaws (links) beim Boxtraining mit Antje Heigl im Keller des Jugendzentrums in Hanau-Kesselstadt

blick in die kirche / Olaf Dellit
Veröffentlicht 23 Mär 2024

Der Hanauer Stadtteil ist das, was oft «sozialer Brennpunkt» genannt wird: Hochhäuser prägen das Bild. In der Gründungsphase sollte an der Stelle eigentlich eine Kita errichtet werden, berichtet Heigl. Doch bald wurde klar, dass etwas anderes viel dringender benötigt wurde: ein Treffpunkt für die Jugendlichen, die in Kesselstadt wohnen, oft in kleinen Wohnungen und in großen Familien. Evangelische Kirche und die Stadt Hanau teilten sich die Finanzierung von drei Stellen in der Sozialarbeit, später wurden es vier, hinzu kommen Ehrenamtliche und Projektstellen.

Herzstück der Arbeit ist seit Beginn der Offene Treff. An jedem Wochentag stehen die Räume offen, immer gibt es etwas zu essen und zu trinken, den Billardtisch und die vielen Sitzecken auf Sofas und Sesseln, die irgendwo ausgemustert wurden. Vor allem aber gibt es hier Wärme, menschliche Wärme.

So sein können, wie man ist

Im Juz können die jungen Leute sie selbst sein. Das klingt selbstverständlich, ist es aber nicht, erklärt Heigl: «Viele schämen sich, dass sie so sind, wie sie sind.» Hier gilt, wie ihr Kollege Günter Kugler es einmal formuliert hat, der einfache Grundsatz: «Du bist okay, ich bin okay.» Vertrauen, Ehrlichkeit, Respekt – mit diesen Worten fasst Antje Heigl die Grundlagen der Arbeit zusammen. Schwächen, auch Scheitern, sind okay. «Wir reichen immer die Hand», sagt Heigl, das gilt übrigens im übertragenen und im wörtlichen Sinne.

Heigl hat in ihrer Zeit in Kesselstadt viele Jugendliche aufwachsen sehen. Manche tauchen irgendwann auf, stolz mit eigenen Kindern. Sie hat auch Scheitern miterlebt: Gefängnis, Drogen- und Spielsucht sind Themen. Aber sehr oft hätten sich die Begleitung und die Geduld gelohnt und junge Leute hätten auf einen guten Lebensweg gefunden. «Ich bin», sagt Heigl, «ein Mensch mit viel Hoffnung. Ich habe aber auch viel erlebt, was Hoffnung macht.»

Das Vertrauen im Stadtteil habe sich das JuZ über Jahrzehnte erarbeitet. Dieser Zusammenhalt bewährte sich in Kesselstadts schlimmsten Tagen, der Zeit der Morde im Februar 2020 (siehe Artikel unten). Das Angebot in dem Flachbau mitten zwischen den Hochhäusern ist groß: Schülertreff, Offener Treff, Fußball, Capoeira, Sommerfreizeiten, Sozial- und Berufsberatung.

Und es gibt noch eine Besonderheit, für die man in den JuZ-Keller hinabsteigen muss. Schwere Sandsäcke an der Decke, Fotos von Muhammad Ali und Mike Tyson, Spiegel und der Schriftzug des Box-Gyms Kesselstadt. Genau: Hier wird geboxt.

Der Sport mit den Fäusten gehört seit  gut 20 Jahren zum Konzept des Jugendzentrums. Damals hat Davut Demir seine Trainerlizenz gemacht und die ersten Jugendlichen trainiert. Heute sind es pro Woche 120 junge Männer und Frauen, die ins Gym kommen. Die Kesselstädter haben sich längst auch bei Meisterschaften einen Namen im Boxring gemacht. Auch Antje Heigl hat eine Trainerausbildung absolviert.

Einblicke: Unsere Videoredaktion hat das JuZ in Hanau-Kesselstadt besucht und stellt es hier vor.

«Das kann ich nicht. - Das kannst du noch nicht.»

Es geht aber nicht nur um sportliche Erfolge, sondern vor allem um einen selbst, erläutert Heigl. Man könne sich im Ring nicht verstecken, sondern müsse sich stellen – auch seinen Ängsten. Es gebe Jugendliche, vor allem Jungs, die durch bestimmte Auslöser die Kontrolle über sich verlieren würden und dann immer wieder auffällig seien und rausflögen, aus der Schule beispielsweise. Boxen könne helfen, die Kontrolle wiederzubekommen.

Gerade den Mädchen, die im JuZ boxen, helfe das sehr in der Persönlichkeitsbildung. Sinem Baran bestätigt das. Die 21-Jährige hat mit zehn Jahren das erste Mal die Boxhandschuhe angezogen und trainierte bald zweimal wöchentlich. «Das kann ich nicht», habe sie immer gedacht, doch Trainerin Heigl habe entgegnet: «Das kannst du noch nicht.» Kleine Schritte machen, um ein großes Ziel zu erreichen, das habe sie das Boxen gelehrt, sagt Baran. Disziplin, Fairness und Stärke – so charakterisiert sie das Boxen.

Sinem Baran hat einige Zeit ausgesetzt,  war umgezogen und kehrte – «einmal Kesselstadt, immer Kesselstadt» – wieder zurück. Heute assistiert sie als Co-Trainerin im Box-Keller.

Ein paar Stunden im JuZ, nur ein kleiner Einblick in diesen Ort der offenen Arme und der harten Fäuste. Inzwischen ist auch im Erdgeschoss wieder etwas los: Capoeira, die Mischung aus Kampfsport und Tanz. Mittendrin tobt sich die Grundschülerin aus, die so früh da war. Kalt ist ihr bestimmt nicht mehr.

Titelblatt der Ausgabe Nächstenliebe von blick in die kirche
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