Vor den Toren der Justizvollzugsanstalt I in Kassel: Hanna Hirschberger ist seit vielen Jahren in der Gefängnisseelsorge tätig und weiß, wie wichtig ihre Arbeit ist

Vor den Toren der Justizvollzugsanstalt I in Kassel: Hanna Hirschberger ist seit vielen Jahren in der Gefängnisseelsorge tätig und weiß, wie wichtig ihre Arbeit ist

blick in die kirche / Hanna Hirschberger
Veröffentlicht 23 Mär 2024

Ich betrete meinen Unterrichtsraum. Ist der Gefängnisseelsorger da, dann kann ein Mitarbeiter den Gruppenraum schon vorbereiten, weil er früher seine Zelle verlassen durfte. Ich warte.

Eine weitere Eisentür zu den Zellentrakten wird geöffnet. Die Mitglieder meines evangelischen Arbeitskreises, zehn bis zwölf Männer zwischen 30 und 60 Jahren, kommen. Das geschieht nicht gleichzeitig, Geduld ist angesagt. Wir begrüßen uns per Handschlag und Namen. Wir siezen uns, das ist eine Frage des Respektes.

Wenn alle da sind, wird die Eisentür zum Flur wieder verschlossen und ich bin mit «meinen» Männern allein. Angst habe ich keine, aber für eventuelle Notfälle ein Personennotrufgerät dabei. In den 30 Jahren, die ich hier arbeite, habe ich es für mich noch nie gebraucht. Einmal hatte ein Gefangener ein medizinisches Problem; da war es gut, einen Arzt rufen zu können.

Da sitzen Männer mit unterschiedlichen Lebens- und Tatgeschichten: Betrug, Betäubungsmittelverstöße (also Drogen), Sexualdelikte, Mord, Totschlag, Raub. Es ist die ganze Bandbreite, die die Unterbringung in einem Gefängnis der Sicherheitsstufe 1 – der höchsten – und für lange Strafen notwendig macht.

Männer, die oft schwere Schuld auf sich geladen haben. Wie gehen sie damit um, was geht in ihnen vor? In der Gruppe wird nicht über Straftaten gesprochen; die seelischen Nöte gehen die Allgemeinheit nichts an. Als Prädikantin und ehrenamtliche Seelsorgerin biete ich aber bei Bedarf kurze Einzelgespräche unter vier Augen an.

Seit 30 Jahren bin ich jeden Dienstag in der JVA Kassel I, manchmal häufiger. Ich komme immer noch gern. Eine inzwischen verstorbene Kirchenvorsteherin meiner Gemeinde hatte diese Arbeit jahrzehntelang geleistet und ich begleitete sie gelegentlich. Als mich der damalige Gefängnispfarrer fragte, ob ich diese Arbeit übernehmen würde, sagte ich spontan ja. Ich habe es nicht bereut.

«Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen.»

Im Matthäusevangelium in der Bibel heißt es im Gleichnis vom Weltgericht: «Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen» (Matthäus, 25,36). Der Besuch eines Altenheims oder Sportvereins mag einfacher sein, aber es bereichert mich, diejenigen aufzusuchen, die sonst keiner wahrnimmt. Ich bin nach wie vor überzeugt, dass wir Menschen nicht bessern, wenn wir sie wegsperren.

Sanktionen müssen sein, doch neben professionellen Therapien ist die Hinwendung zum Nächsten wichtig: nachfragen, Hilfe anbieten, zum Beispiel im vorurteilsfreien Gesprächsangebot. Kein Mensch, der in seinem Leben einen Fehler gemacht hat, ist 24 Stunden am Tag Verbrecher. Ich frage nicht nach, was jemand getan hat. Die spektakulären Fälle erfährt man ohnehin aus der Zeitung.

Normale Gespräche führen, Empathie erfahren, gemeinsam lachen, Informationen aus der Welt draußen hören, das ist so viel wert. Gott hat den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen, sind es die Gefangenen nicht? Es gibt Fälle und Verhaltensweisen, die mich zweifeln lassen, doch ich versuche, nicht zu urteilen.

In den 30 Jahren habe ich immer wieder gespürt, dass mich die Männer brauchen. Ich bekomme auch viel zurück: Dank für einen gelungenen Abend und Sätze wie: «Die wöchentliche Gruppe ist ein Highlight im tristen Alltag» oder «Bleiben Sie uns noch lange erhalten!»

Einige meiner ehrenamtlichen Vorgänger waren über 40 Jahre bis hoch in die 80er-Jahre in ihren Gruppen. Mal schauen, wie lange meine Kraft und Lust am Ehrenamt reichen. Bis zum 80. Geburtstag habe ich ja noch 13 Jahre Zeit.

Hanna Hirschberger hat im Religionspädagogischen Institut in Kassel gearbeitet und hat verschiedene Ehrenämter.

Titelblatt der Ausgabe Nächstenliebe von blick in die kirche
Magazin als e-Paper

Das «blick in die kirche-magazin» bietet einem großen Lesepublikum Lebenshilfe- und Ratgeberthemen in unterhaltsamer Form. In einer Auflage von 260.000 Exemplaren liegt das Magazin vier Mal im Jahr den Tageszeitungen in Kurhessen-Waldeck bei. Hier kann das «blick in die kirche-magazin» zum Thema Nächstenliebe im praktischen e-Paper-Format gelesen werden