Frau, die mit ihrer Hand zu verstehen gibt: Stopp, hier nicht weiter!

Frau, die mit ihrer Hand zu verstehen gibt: Stopp, hier nicht weiter!

blick in die kirche / Fragen: Olaf Dellit
Veröffentlicht 23 Mär 2024

Wir verstehen Nächstenliebe als Fundament kirchlicher Arbeit. Sexualisierte Gewalt ist das krasse Gegenteil und passiert auch in der Kirche. Ist das Fundament erschüttert?

Sabine Kresse: Sexualisierte Gewalt hat nichts mit Liebe zu tun, weder mit Nächstenliebe noch mit irgendeiner anderen Liebe. Da geht es immer um Macht. Ich glaube aber, dass wir im Moment den Begriff Nächstenliebe nicht vor uns hertragen sollten. Grundsätzlich ist Nächstenliebe nicht falsch, sie hat sehr viel damit zu tun, sich dem Nächsten zuzuwenden, ein offenes Ohr zu haben. Nur darf das Machtungleichgewicht nicht zu einer Machtausnutzung führen und schon gar nicht zu Gewalt. Das Fundament ist schon richtig. Wenn daraus sexualisierte Gewalt wird, ist es falsch.

Begriffe wie Gut und Böse oder Sünde sind ein wenig aus der Mode. Aber wären sie hier angemessen?

Kresse: Ich finde es extrem schwierig, das theologisch so verkürzt einzuordnen.  Aber natürlich ist sexualisierte Gewalt eindeutig falsch und ein Widerspruch zu dem, wofür wir sonst stehen.

Auch Vergebung ist der Kirche wichtig. Können solche Taten überhaupt vergeben werden?

Kresse: Die Frage ist: Wer soll hier wann und wem vergeben? Es sind Taten, die hier auf der Erde zwischen zwei Menschen passiert sind. Ich finde, da hat göttliche Vergebung erst mal nichts zu suchen. Das ist eine andere Dimension. Es gibt sicherlich betroffene Menschen, die vergeben können, wenn sie soweit sind und das wollen. Aber wir können von Betroffenen Vergebung keinesfalls einfordern.

Die ForuM-Studie sollte auch untersuchen, welche Strukturen oder Eigenarten der evangelischen Kirche sexualisierte Gewalt begünstigen. Was sind wichtige Erkenntnisse?

Kresse: Dieser Satz «Ihr habt euch sehr lange für die bessere Kirche gehalten» hat schon einen wahren Kern, auch wenn wir das natürlich nie so gesagt haben. Ein anderer wichtiger Punkt sind familiäre Strukturen in der Kirche, sich als ein Mikrokosmos zu verstehen, in dem man vieles mit sich selber ausmacht und Täter auch geschützt hat.

Die Kirche als Familie?

Kresse: Da wollte man kein Nestbeschmutzer sein. Das war ein großer Fehler und auch der Umgang mit Beschuldigungen, die an uns herangetragen wurden. Die Bischöfin hat sehr deutlich gesagt: Auch unsere Kirche hat versagt. Sie hat jahrzehntelang nicht auf die Betroffenen gehört, sondern vor allem die Täter und unser Ansehen im Blick gehabt. Wir sind unseren eigenen Ansprüchen nicht gerecht geworden.

Was muss sich also verändern?

Kresse: Unrecht muss Unrecht bleiben und Gewalt ist Gewalt, egal wo sie stattfindet, ob in der Kirche oder außerhalb. Da darf es kein unterschiedliches Maß geben.

Wie sollte die Kirche werden?

Kresse: Sie muss transparenter und durchlässiger sein. Und sie sollte ein klares Bewusstsein von Hierarchie und Strukturen haben. Es gab diese Haltung: Eigentlich sind wir alle gleich, aber einer hat doch das Sagen. Das ist uns böse auf die Füße gefallen. So etwas wie Herrschaftswissen darf es nicht mehr geben.

Falls Betroffene von sexualisierter Gewalt in Kirche oder Diakonie dieses Interview lesen sollten: Was würden Sie ihnen sagen wollen?

Kresse: Zuallererst, dass es mir sehr leidtut, was sie erleiden mussten. Wer das Thema angehen möchte, weil es jetzt dran ist, der kann und soll sich melden. Das geht auch über Menschen des Vertrauens, weil es ein sehr großer Schritt ist. Gerne auch bei nichtkirchlichen Beratungsstellen. Wer aber für sich das Gefühl hat, er möchte das Thema ruhen lassen, der soll auch dieses tun. Da darf es keinen Druck auf Betroffene geben.

Pfarrerin Sabine Kresse

Fachstelle zum Schutz vor sexualisierter Gewalt

Pfarrerin Sabine Kresse
Leiterin
Haus der Kirche, Wilhelmshöher Allee 330, 34131 Kassel
+495619378404
ekkw.de-Ratgeber:

Betroffene oder deren Angehörige und Freunde können sich auf unterschiedlichen Wegen Hilfe oder Beratung holen. Im ekkw.de-Ratgeber finden Sie Informationen, Ansprechpersonen und Links.

Titelblatt der Ausgabe Nächstenliebe von blick in die kirche
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