blick in die kirche / Salome Möhrer-Nolte
Veröffentlicht 23 Mär 2024

Die Motivation für Nächstenliebe ist nicht immer ganz selbstlos. Menschen, die Nächstenliebe praktizieren, tun dies auch, um sich besser zu fühlen, um sich nützlich und wirksam zu erleben. Sie tun es für ihr eigenes gutes Gefühl. Das ist auch legitim, aber eine solche Motivation kann, wenn sie nicht bewusst wahrgenommen wird, zum Problem werden.

Nächstenliebe kann auf Dauer nur funktionieren, wenn Menschen, die etwas für andere tun, sich immer wieder bewusst machen, wieso sie dies tun, und wenn sie auch zu sich selbst gut sind. Der Mystiker Bernhard von Clairvaux hat es, übrigens schon im 12. Jahrhundert und lange, bevor Burnout ein Thema war, so ausgedrückt: «Wenn du vernünftig bist, erweise dich als Schale und nicht als Kanal, der fast gleichzeitig empfängt und weitergibt, während jene wartet, bis sie gefüllt ist. Auf diese Weise gibt sie das, was bei ihr überfließt, ohne eigenen Schaden weiter. Lerne auch du, nur aus der Fülle auszugießen (…) die gütige und kluge Liebe ist gewohnt überzuströmen, nicht auszuströmen.» In diesem Bild steckt eine tiefe Weisheit und alles, was für eine gesunde Haltung der Nächstenliebe wichtig ist.

Das Portraitfoto zeigt Salome Möhrer-Nolte
«Die Motivation für Nächstenliebe ist nicht immer selbstlos und muss es auch nicht sein. Allerdings sollte man sich über seine Motive bewusst sein und sich selbst nicht vergessen.»
Salome Möhrer-Nolte

Es ist notwendig, zunächst gut für sich zu sorgen, um ausreichend gefüllt zu  sein, ehe ich meiner nächsten Person etwas gebe von meiner Zeit, meiner Kraft und meiner Zuwendung. Erst dann kann ich überströmen und an andere aus meinem Überfluss weitergeben. Wie diese innere Schale gefüllt werden kann, dass sie überfließt, ist individuell sicherlich ganz unterschiedlich: Es gibt Menschen, die brauchen hierfür den Kontakt mit Schönem, mit Musik, Natur, Literatur oder Kultur. Andere füllen ihre innere Schale durch regelmäßige «Me-Time», Stille, Meditation oder Tanz. Oder durch wohltuende Begegnungen mit Freunden.

Ich erinnere mich an die Gespräche mit einer Ehrenamtlichen. Sie fühlte sich erschöpft und geradezu ausgelaugt durch ihre zwei ehrenamtlichen Engagements, die sie beide mit viel Hingabe und großem zeitlichen Einsatz ausfüllte. Die Tätigkeiten waren für sie sinnstiftend. In beiden ging es darum, Menschen zu helfen.

Sie berichtete, dass sie zunehmend darunter litt, dass ihr die Aufgaben keine Freude mehr machten, dass ihr Interesse an den zu begleitenden Menschen deutlich 
nachgelassen hatte. Sie erlebte die ehrenamtlichen Einsätze nur noch als Belastung. Und sie ärgerte sich über die Undankbarkeit der Hilfesuchenden. Bei ihr war etwas aus der Balance geraten. Burnout durch zu viel Nächstenliebe? Diese Gefahr besteht immer dann, wenn Menschen nicht ausreichend Energie und Aufmerksamkeit in die Selbstfürsorge investieren.

Es ist gut, sich immer wieder zu fragen: Habe ich genug, was meine innere Schale füllt? Für die Ehrenamtliche war es hilfreich, sich mit dieser Frage zu beschäftigen und sich selbstkritisch zu fragen, was sie in Wahrheit motiviert für ihr Engagement und was sie für sich davon haben möchte.

So kam sie auch ihrem Ärger auf die Spur: Sie wollte Dank und Anerkennung durch die Hilfesuchenden und die bekam sie nicht in dem Maße, in dem sie es für sich brauchte. Sind Menschen sich der Motive für ihren Dienst am Nächsten bewusst und achten auf ein gesundes Gleichgewicht zwischen Selbst- und Nächstenliebe, kann Engagement für andere auf Dauer zum Wohle aller sein. Ich bin überzeugt davon, dass eine Gesellschaft Menschen braucht, die Nächstenliebe genau in diesem Bewusstsein praktizieren.

Welche Rufnummern gibt es?

Die Telefonseelsorge ist 24 Stunden an 365 Tagen im Jahr für alle erreichbar. Die Telefonnummern sind:

+498001110111, +498001110222 oder 116123

Das Angebot ist kostenfrei und anonym.

Titelblatt der Ausgabe Nächstenliebe von blick in die kirche
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