Redaktion ekkw.de
Veröffentlicht 19 Mär 2012

Das Interview führte medio-Redaktionsleiter Christian Fischer am 08.03.2012 in Kassel

Fischer:
Herr Landeskirchenmusikdirektor Maibaum, in diesem Jahr steht in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) das Projekt «Musik und Reformation» ganz oben auf der Tagesordnung. Auch in Kurhessen-Waldeck gibt es viele Veranstaltungen. Reformation und Musik - wie passt das zusammen?

Maibaum:
Die Reformation war eine großartige Singbewegung. Martin Luther war ein musikbegeisterter Mensch und wusste recht genau, Gesang und Musik im kirchlichen Rahmen einzusetzen. Eine singende Gemeinde war vor der Reformation nicht üblich. Es waren Mönche, die im Gottesdienst gesungen haben, die Gemeinde blieb stumm. Durch die Reformation ist die Gemeinde am Gesang und an der Gestaltung des Gottesdienstes aktiv beteiligt worden. Ein riesiges Repertoire an Liedern und ein großartiger Schatz an Kompositionen zu diesen Liedern entstanden. Auch die Kompositionstechnik hat sich verändert. Die Kantaten Johann Sebastian Bachs gäbe es nicht ohne die Reformation. Außerdem war die Reformation die Geburtsstunde eines heute noch praktizierten Kantoreiwesens mit Kinder-, Jugend- und Erwachsenenchören und dem wunderbaren Beruf des Kantors. Von daher kann ich sagen: Kirchenmusik und Reformation hängen eng zusammen.

Fischer:
Viele der musikalischen Veranstaltungen innerhalb dieser Aktion finden in der Karwoche statt. Wie schlägt sich das in der Musik nieder?

Maibaum:
Die Veranstaltungsreihe «366 +1», wurde von der EKD initiiert. Wir in Kurhessen-Waldeck werden in der Karwoche an jedem Abend eine besondere Veranstaltung im Rahmen dieses Projektes anbieten, Konzerte und Gottesdienste über die gesamte Landeskirche verteilt. Das Ganze beginnt in Kaufungen in der Stiftskirche mit einem Gottesdienst am Palmsonntag und endet mit der Feier der Osternacht in Fritzlar.

Fischer:
Welche besondere Kirchenmusik wird es da in Fritzlar geben?

Maibaum:
Es wird die traditionelle Osternachtsliturgie von der Schola der Evangelischen Kirchengemeinde.unter der Leitung von Reiner Volgmann gesungen. Es erklingen Werke von Melchior Vulpius und Johann Krüger. Gemeinsam werden Gesänge aus Taizé musiziert.

Im Rahmen des gesamten und vielfältigen musikalischen Blumenstraußes in der Karwoche erklingt bei dieser Veranstaltung die Kirchenmusik als integrativer Bestandteil unseres Gemeindelebens – in einem besonderen Gottesdienst. Hier wird natürlich auch das traditionelle Osterfeuer nicht fehlen.

Fischer:
Die Osternacht ist für die meisten Christen eine ganz bewegende Nacht, die nicht nur die Gedanken bewegt, sondern auch die Herzen. Was geschieht eigentlich in unserer Seele und in unserem Herzen, wenn wir Musik hören?

Maibaum:
Das sind komplexe Vorgänge. Ein Mediziner wird Ihnen etwas über hormonelle Vorgänge erzählen können. Er wird auch berichten, dass das Hören durchaus ein aktiver Vorgang ist. Das finde ich interessant zu wissen. Dieses Wissen ist aber keine Voraussetzung, um tatsächlich seelische Veränderungen durch Musik zu erleben. Diese geschieht. Und das ist ja das erstaunliche, dass wir durch Musik innerlich in einer besonderen Art und Weise bewegt werden. Musik ist in der Lage, unsere Emotionalität zu verändern. Wir können aggressiv werden durch das Hören von Musik. Sie kann uns glücklich, beschwingt oder melancholisch machen. Musik ist eine international funktionierende Sprachform, die Abseits vom Verstand direkten Zugriff auf uns hat. Und ja, wo auch immer die Seele sitzt, sie gerät durch Musik in Schwingung.

Fischer:
Kann die Musik auch Glauben stiften, herbeiführen oder verstärken?

Maibaum:
Ich bin Kirchenmusiker geworden, weil ich der vollen Überzeugung bin, dass das möglich ist. Wir haben natürlich die biblische Botschaft in Form von Wörtern im Zentrum unseres Glaubens, aber der Klang gehört unmittelbar dazu. Der Glaube kommt aus dem Hören, liest man bei Paulus. Ich bin der Meinung, dass glaubensstiftend nicht nur das Hören und Verstehen der Worte ist, sondern auch der Einfluss des Klanges an sich. Ich weiß, dass Musik durchaus Predigerin sein kann. Wenn Sie die Kolleginnen und Kollegen am Sonntag im Gottesdienst musizieren hören, werden Sie in der Regel ein konstruktives Gegenüber zum gesprochenen Wort wahrnehmen. Die Kolleginnen und Kollegen bemühen sich, durchaus auch interpretatorisch einzugreifen, mitzuwirken, gegenüberzustellen, zu bestätigen oder, - das gibt es auch – in Frage zu stellen. Ja, Musik kann predigen und tut das. Musik stiftet und verstärkt den Glauben.

Fischer:
Werfen wir einen Blick auf die Menschen, die musizieren. Welche Auswirkungen hat das Musizieren auf den Körper und den Geist?

Maibaum:
Das geschieht anders als beim bloßen Hören. Im Gegensatz zum Musik hören betreibe ich als Musizierender ja einen ganz intensiven Dialog. Ich erlebe als Musiker immer wieder die spielerische Kommunikation mit meinem Instrument, mit einem Raum, oder auch mit der Komposition und deren Komponisten. Ich kommuniziere also mit Johann Sebastian Bach, wenn ich ein Orgelwerk von ihm einstudiere. Ich staune, kämpfe manchmal mit ihm, versuche etwas zu verändern, lass mich glücklich überwältigen und durchmische die von Bach geschriebene Partitur mit meiner Persönlichkeit. Das ist ein wunderbares hinund her.

Der Musizierende kommuniziert natürlich auch mit dem Zuhörenden, geht mit dessen Hörerwartungen um und spielt damit – erschreckt, besänftigt, beglückt. Wir erzählen Klanggeschichten und nehmen die Hörerreaktion mehr oder weniger bewusst auf und entwickeln damit selbst weiter.

Als Musizierende kommunizieren wir zudem mit den Mitmusizierenden, so zum Beispiel in unseren Chören. Jeder Chorsänger, der da zur gemeinsamen Probe kommt, hat dafür seine eigenen und guten Gründe, bringt sich und sein Leben mit, hat vielleicht einen harten Tag hinter sich, ist glücklich oder traurig. Nun sind sie alle da und die Probe beginnt und jeder setzt seine persönliche Stimme ein - Kommunikation, die verbindet.

Fischer:
… und manchmal kommt ja ein ganzes Orchester …

Maibaum:
…ich finde es wunderbar, mit Orchestermusikern zu kommuniziere. Da sitzt dann ein Oboist beispielsweise, der mit seinem vom Alltag gezeichneten Köfferchen ankam und dieses auch heute aufmachte. Und dann baut er sein Instrument zusammen, das er meistens liebt, vielleicht auch ab und zu gegen die Wand schmeißen möchte, und tut sein selbst und sorgsam gebautes Rohr oben hinein, welches er vorher feucht machen musste. Dann fängt er an zu blasen und er bläst seine ganze Persönlichkeit und seine Seele durch diese Holzröhre und ein Teil von diesem Menschen kommt mit dem Klang zu mir. Ich wiederum zeige, dass ich zuhöre und dass er mich damit bewegt und das wiederum beeinflusst sein Spiel. Und so klingt es bei jeder Besetzung anders. Diese Kommunikation liebe ich am Musik machen sehr.

Fischer:
Welche Zukunft sehen Sie denn für die Musik in der Kirche und im Gottesdienst?

Maibaum:
Ich bin der vollen Überzeugung, dass Kirche und Gottesdienst insgesamt ohne Musik nicht möglich ist. Musik ist ein entscheidender Bestandteil des Gottesdienstes und der liturgischen Handlung...

Fischer:
 … die Kirche verändert sich …

Maibaum:
… wenn wir Reformation wollen und Protestanten sind, müssen wir immer eine wandelnde Kirche sein. Aber auch in dieser sich wandelnden Kirche wird eine sich mit entwickelnde Kirchenmusik eine wesentliche und bedeutende Sprache seien.

Fischer:
Auch außerhalb der Kirche hat Musik einen unglaublichen Stellenwert. Jugendliche konsumieren viel Musik, spielen in Band, Castingshows wie «DSDS» oder «Voice of Germany» sind Quotenrenner im Fernsehen. Wie stehen Sie zu diesen Castingshows und kommt nach «Voice of germany» oder «DSDS» bald etwas wie die «Voice of Church»?

Maibaum:
Das mag es durchaus irgendwo auf der Welt schon geben. Ich weiß es nicht, aber wie stehe ich zu den Castingshows? Zunächst einmal interessiert mich persönlich dieses Thema nicht sehr. Auf der anderen Seite ist es für mich ein Zeichen, dass wieder eine erneute Singbewegung entsteht. Wir waren eigentlich fast ein «entsungenes» Land geworden, in dem wir Kirchenmusiker ein bisschen Angst hatten, dass in absehbarer Zeit kein Mensch mehr singen möchte und die Chorlandschaft zusammenbricht. Vielen erschien Singen peinlich. Das hat sich verändert, auch durch solche komischen Shows, mit denen ich jetzt nicht befreundet bin.

Fischer:
Warum nicht befreundet?

Maibaum:
Ich bin skeptisch gegenüber der Bewertung von Musik in der dort praktizierten Art und Weise. Warum muss man Musik zensieren und sagen, der eine ist gut, der andere ist schlecht. Wie kann man das überhaupt leisten? Ich bin der Meinung, dass, jeder der singt, gut dran ist. Also freue ich mich, wenn die Menschen das tun und der Gesang alltäglich ist. Dazu gehören eine atraktive und vielseitige Chorlandschaft, sangesfreudige Erzieherinnen in Kindergärten, Pfarrer in der Gemeinde, Lehrer in der Schule, Kirchenmusiker und – seis drum – auch die ein oder andere Castinshow.

Fischer:
Und wie sehen Sie die Entwicklungen in der Popmusik, also der populären Musik?

Maibaum:
Der Schatz unserer Kirchenmusik ist riesig. Wir haben von uralten Gregorianischen Gesängen bis hin zur zeitgenössischen Musik ein wahnsinniges Spektrum an Kirchenmusik. Für mich ist es überhaupt nicht die Frage, ob das populär oder nicht populär ist. Johan Sebastian Bach ist wahrscheinlich ungeschlagen populär. Wie viele Menschen auf dieser Welt werden Bachs Kantaten gehört haben. Da wird ein populärer Musiker unserer Zeit viele CDs verkaufen müssen, um diese Verbreitung zu erreichen. Ich möchte das eine nicht gegen das andere ausspielen. Es ist für mich die Frage der Qualität.

Fischer:
Was wäre so ein Qualitätskriterium?

Maibaum:
Qualitätskriterium ist für mich, dass es sowohl sprachlich, als auch musikalisch nicht flach und trivial ist. Ich finde, es darf auch angepasste und durchaus kuschelige Momente in der Musik geben, aber nicht ausschließlich. Musik, wenn sie wirklich eine Aussage hat, muss auch mal kratzen und zur Aufmerksamkeit herausfordern. Das kann in unterschiedlichsten Stilen geschehen. 

Fischer:
Also sollte qualitativ hochwertige Musik die gängigen Hörgewohnheiten brechen?

Maibaum:
Es ist doch wie beim Spiel. Ich spiele als Musiker mit den Erwartungen der Hörenden und wenn ich die nur mit Elementen bearbeite, die weichgespült und angepasst sind und deswegen eventuell bessere Verkaufswerte haben, ist es für mich ein sehr uninteressantes Spiel. Ich bin für ein interessantes, vielfältiges Spiel mit ganz vielen Farben und inspirierenden Klängen lang anhaltendem Eindruck.

Fischer:
Und welche Musik gefällt Ihnen persönlich am besten? Bei wem sagen Sie: Das ist mein Interpret, das ist mein Komponist, da bin ich der absolute Fan.

Maibaum:
Das ist eine Frage, die ich nicht beantworten kann, weil es so unglaublich viele tolle Sachen gibt. Am vergangenen Dienstagabend war ich in einem Konzert und habe «Le sacre du printemps» von Stravinsky gehört. In einem Augenblick am Ende des ersten Satzes, gibt es eine Stelle, wo ein Schlagzeuger auf einem Holzbrett rumzukratzten hat und der Rest im von Stravinsky organisierten Chaos versinkt. Das war für mich ein wunderschöner Moment, bei dem dieser eine Schlagzeuger ein Stück Orientierung herbeibrachte. Ob der sich seiner Wirkung bewusst war? Er war in dem Augenblick mein «Star». Solche Momente gefallen mir, egal ob die Musik nun alt oder zeitgenössisch ist - egal ob Sting, Monteverdi, Miles Davis oder ein Mönch um 800 n. Chr. sie erfunden hat.

Fischer:
Dann wünsche ich Ihnen noch viele solcher intensiver und irritierender musikalischer Momente. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Maibaum!