Redaktion ekkw.de
Veröffentlicht 06 Jul 2017

Bischof Prof. Dr. Martin Hein stellte sich den Fragen von Pfarrer Christian Fischer, Leiter des Medienhauses der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, am 4. Juli 2017 in Kassel.

Fischer: Herr Bischof, wir feiern in diesem Jahr das 500 jährige Reformationsjubiläum. Was ist für Sie persönlich der Höhepunkt dieses Jubiläums?

Bischof Hein: Das ganze Jahr 2017 ist da voller Höhepunkte. Deshalb ist es schwierig, einen einzigen herauszugreifen. In unserer Landeskirche denke ich jetzt, zur Halbzeit, besonders an zwei Ereignisse: zunächst an das große Reformationsfest in Homberg/Efze, bei dem die Aktion «Alte Thesen neu gelesen» zu ihrem Abschluss kam und wir wunderbare Projekte aus den Gemeinden prämiert haben. Ein zweiter Höhepunkt – das sage ich mit einem gewissen Augenzwinkern – war für mich das «Pilgern mit Traktoren» von Bad Hersfeld nach Heringen auf den Spuren Martin Luthers. Das hat in der Öffentlichkeit eine große Resonanz gefunden und gezeigt, dass sich Menschen für Luther begeistern lassen, von denen man es zuvor gar nicht gedacht hat.

Fischer: Wie lautet für Sie die wichtigste Botschaft des Jubiläumsjahres?

Bischof Hein: Luther ist so aktuell, wie er immer war. Seine Botschaft heißt zum einen, dass wir unserem Gewissen folgen, auch wenn Andere eine andere Meinung vertreten. Zum anderen gilt es, die Freiheit, die uns der Glaube schenkt, verantwortlich wahrzunehmen. Das sind für mich zwei wesentliche Einsichten, die in das gesellschaftliche Leben hinein wirken und hier ihre Bedeutung entfalten.

Fischer: Im Jubiläumsjahr wurden und werden viele Kräfte mobilisiert. Wo sehen Sie nachhaltige Effekte? Was wirkt weiter?

Bischof Hein: Luther ist jetzt in aller Munde, auch mit seinen Schattenseiten. Allein das hat sich schon gelohnt. Es gibt wohl niemanden, der nicht weiß, wer Martin Luther gewesen ist und was das mit der evangelischen Kirche zu tun hat. Es hat sich zudem viel bei der Renovierung von Stätten der Reformation getan.
Ich glaube, dass es uns guttut, uns der Reformation und ihrer Folgen zu vergewissern. Wir müssen Auskunft geben können, weshalb wir evangelisch sind. Wenn dieser Ertrag vermittelt werden konnte, dann haben das Lutherjahr und die Reformationsdekade ihr Ziel erreicht.

Fischer: Werfen wir einen Blick auf Europa und die Welt. Dort gibt es den «Brexit», Konflikte mit dem türkischen Staatspräsidenten Erdogan, Meinungsverschiedenheiten mit dem neuen amerikanischen Präsidenten – vielen erscheint die aktuelle Weltlage nicht mehr so sicher, wie sie einmal war. Herr Bischof, wie erleben Sie selbst die aktuelle Situation?

Bischof Hein: Manche Selbstverständlichkeiten sind nicht mehr vorhanden. Die transatlantische Freundschaft gerät in eine Schieflage. Man weiß nicht, ob man den amerikanischen Präsidenten eigentlich ernst nehmen soll. Zugleich aber muss er ernst genommen werden, weil er eine Weltmacht repräsentiert. Der «Brexit» hat gezeigt, dass Europa inzwischen wieder in einzelne Interessenlager zu zerfallen droht. In einigen Ländern wird gefordert, eine Volksbefragung durchzuführen, ob man in der EU bleiben soll. Die EU wird zunehmend nur noch als Verhinderung nationaler Interessen gedeutet. Dabei war die EU das Projekt – und ist es auch weiterhin! – das diesem Kontinent, der über Jahrhunderte von Krieg gekennzeichnet war, eine lange Epoche des Friedens gebracht hat. Was sich in diesen Tagen aber deutlich zeigt, ist, dass rein ökonomische Interessen die EU nicht zusammenhalten. Der Satz des ehemaligen Kommissionspräsidenten Delors, dass Europa eine Seele brauche, ist nach wie vor aktuell.

Fischer: Woraus kann denn aus Ihrer Perspektive in so einer unsicheren Situation wieder Zuversicht oder Mut wachsen, positive Strahlkraft entstehen?

Bischof Hein: Ich glaube, Europa darf nicht schlecht geredet werden. Gerade für junge Menschen steht Europa völlig außer Frage. Das ist richtig gut! Da hat sich in den letzten fünfzig Jahren unendlich viel Positives entwickelt. Ich bin auch gegen Panikszenarien. Ich glaube schon, dass die Politik in Europa, im Großen und Ganzen betrachtet, berechenbar bleibt und verlässlich ist. Trotzdem schleichen sich Ungewissheiten ein, die man nicht einfach wegreden kann.

Fischer: Was kann der Glaube in einer solchen Situation beitragen?

Bischof Hein: Aus der Sicht unseres Glaubens bedeutet das, für Solidarität und für die Rechte der Schwächeren einzutreten. Und es gilt, auch weiterhin das europäische Projekt zu befürworten. Und schließlich sollten wir für Europa beten – wie wir es ja auch für die Geschicke in den Ländern anderer Kontinente tun! Ein Glaube, der nur agiert und sich nicht in Gott verankert weiß, wird schnell kurzatmig.

Fischer: Werfen wir einen Blick auf die Bundestagswahl 2017. Wie erleben Sie denn den beginnenden Wahlkampf für die Bundestagswahl?

Bischof Hein: Allmählich werden die Programme verabschiedet. Aber in der Politik ist ganz klar: Programme sind das eine – und Koalitionen sind das andere. Politik lebt von Kompromissen. Das bedeutet: Es ist gut, wenn die Parteien ihr Profil schärfen. Aber wir sollten nicht meinen, dass es dann später eins zu eins umgesetzt wird. Denn es ist nicht davon auszugehen, dass eine der konkurrierenden Parteien die absolute Mehrheit im Bundestag erreichen wird. Das Tableau möglicher Koalitionen ist größer geworden, und das muss man als Wähler berücksichtigen, wenn man einer Partei seine Stimme gibt. In Koalitionen findet immer ein Geben und Nehmen statt.

Fischer: Die Menschen müssen sich im September entscheiden. Was wird das Thema sein, an dem sich die Geister scheiden und das die Bundestagswahl entscheiden wird?

Bischof Hein: Entscheidend ist wohl die Frage der Sicherheit. Wer das Thema innere und äußere Sicherheit im Wahlkampf nach vorne bringt, wird – so vermute ich – die Wahl gewinnen.

Fischer: Mit den Wahlen steht auch die Demokratie als solche zur Wahl. Das sieht man ja an der Zahl der Nichtwähler und der Wähler. Aus Ihrer Sicht: Wie steht es zurzeit um die Demokratie in Deutschland?

Bischof Hein: Ich habe keine Sorgen im Blick auf die Demokratie. Die letzten Landtagswahlen haben gezeigt, dass der Hype um die AfD zurückgeht. Sie haben auch gezeigt, dass Machtkonstellationen verändert werden können. Im Blick auf die Bundestagswahl wage ich keine Prognose. Die Wahlbeteiligung ist zumindest nicht geringer geworden. Ich glaube, dass die demokratischen Institutionen in Deutschland ausgesprochen verlässlich sind. Und auch hier gilt: Wir sollten sie nicht schlecht reden!

Fischer: Werfen wir einen Blick auf Ethik und Moral. Kürzlich referierten Sie beim EKKW-Medientreff zu diesem Thema in Bezug auf die Medien. Wie sehen Sie als Bischof und als Mitglied des Deutschen Ethikrates den Zustand des Wertesystems der Deutschen generell?

Bischof Hein: Wir haben es mit einem Wertepluralismus zu tun. Hinzu kommt, dass sich die so genannten Werte immer in einem Wandel befinden. Nichtsdestotrotz glaube ich, dass bestimmte Grundorientierungen für unser demokratisches System unerlässlich sind. Ich nenne da zunächst einmal das Recht und die Rechtssicherheit, aber auch politische Partizipation. Sie sind wesentliche Voraussetzungen für unser gesellschaftliches Zusammenleben. Wir leben in einem Gesellschaftssystem, das eben nicht auf Korruption oder Oligarchie basiert und in dem ich mich auf Politikerinnen und Politiker verlassen kann. Wir haben weiterhin ein stark ausgeprägtes solidarisches Sozialsystem, das wir nicht immer unter dem Aspekt der Missbräuche betrachten sollten. Wir haben ein sehr kooperatives Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften. Ich glaube, dass sich unsere parlamentarische Demokratie nicht nur bewährt hat, sondern dass sie handlungsfähig ist. In Zeiten, die manche Menschen als eher unsicher erleben, wird das hoch geschätzt.

Fischer: Und wie steht es um die persönlichen Lebensfragen?

Bischof Hein: Das Wertesystem ändert sich im Blick auf einzelne Fragestellungen des persönlichen Lebens. Man ist offener, nicht mehr so festgelegt auf bestimmte Lebensentwürfe, wie das früher der Fall war. Grundsätzlich glaube ich aber, dass die deutsche Gesellschaft eher konservativ ist und gerade bei Jugendlichen Treue, Verlässlichkeit und Sehnsucht nach Geborgenheit hoch im Kurs stehen.

Fischer: Zu den grundlegenden ethischen Fragen gehört auch das Verständnis von Ehe, von Familie. Nun hat der Bundestag in der letzten Woche die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare beschlossen. Wie stehen Sie dazu als Bischof unserer Landeskirche?

Bischof Hein: Zunächst einmal wird sich in unserer Landeskirche nichts ändern. Wir haben schon vor einiger Zeit die Segnung von Menschen, die in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung leben, zugelassen. Wenn jetzt diese Partnerschaften zur Ehe erklärt werden, ändert sich damit zunächst einmal im Vollzug nichts. Die Segnung wird weiter vollzogen werden. Wir müssen allerdings auch beachten, dass die Entscheidung des Bundestages, die meines Erachtens sehr vom beginnenden Wahlkampf bestimmt war, noch einmal vom Bundesverfassungsgericht überprüft wird. Aus meiner Sicht heißt das: Wir warten ab, ob die Ehe weiterhin als Beziehung zwischen Mann und Frau verstanden wird oder ob sie tatsächlich auch in unserer Verfassung so verstanden werden kann, dass sie die Beziehung zwischen zwei Menschen gleich welchen Geschlechtes darstellt. Ich selbst habe mit der Entscheidung als solcher keine Probleme, möchte aber den Begriff der Ehe weiterhin auf Mann und Frau bezogen sehen.

Fischer: Und wenn die rechtliche Klärung zu einem anderen Ergebnis kommt?

Bischof Hein: Wenn es hier eine andere rechtliche Klärung geben sollte, dann könnte ich mich damit auch anfreunden. Eine andere Frage ist, ob wir tatsächlich das Schlagwort von der «Ehe für alle» weiterhin im Munde führen sollten. Wir müssen genau hinschauen, um was es geht: Es geht um die Gleichstellung von Partnerschaften von zwei Menschen, wie es die neue Gesetzesformulierung bezeichnet, die miteinander verlässlich und in Treue leben wollen. Insofern kann man die Entscheidung des Bundestags als Stärkung der Bedeutung der Ehe betrachten. Man kann die Entscheidung aber genauso als eine Schwächung der Ehe betrachten, wenn man sich fragt, ob man eigentlich unter diesen Bedingungen noch die «Ehe» als besonders geschütztes Rechtsinstitut braucht.

Fischer: Wie erleben Sie denn die Stellungnahmen aus dem Raum der EKD und der Landeskirchen zu diesem Thema? Die sind ja durchaus disparat.

Bischof Hein: Ja, das war wieder typisch evangelisch. Wir haben uns als Landeskirche deswegen noch nicht in der Öffentlichkeit geäußert, weil die Antwort auf solch eine Frage einen großen Konsens voraussetzt und unsere kirchenleitenden Gremien in der Kürze der Zeit noch nicht haben tagen können. Ich halte überhaupt nichts davon, als Bischof von Amts wegen etwas vorweg zu verlautbaren. Das entspricht nicht meinem Verständnis von Kirchenleitung. Also keine Schnellschüsse, sondern die ehrliche Beschäftigung mit der Frage: Wie ist das mit unserem biblisch-theologischen Verständnis von Ehe? Muss sich da etwas wandeln? Müssen wir unter Umständen auch in Distanz zum bürgerlichen Recht gehen? Das alles sind Fragen, die sich nicht innerhalb einer Woche beantworten lassen. Deswegen rate ich zum genauen Nachdenken, allerdings nicht zu Entscheidungslosigkeit. Das muss in den Leitungsgremien der Landeskirche intensiv erörtert werden. Wir haben damit begonnen. Wie die Umsetzung erfolgt, hängt sehr stark davon ab, ob die Gesetzesänderung vom Bundesverfassungsgericht überprüft wird und wie die Entscheidung ausfällt. Hier wage ich derzeit keine Prognose.

Fischer: Herr Bischof, werfen wir einen Blick auf die Region. In Kassel findet zurzeit die weltweit bedeutendste Ausstellung für moderne Kunst statt, die Documenta 14. Welches Exponat auf dieser Documenta 14 gefällt Ihnen am besten?

Bischof Hein: Es gibt ungemein viele und unterschiedliche Exponate. Noch habe ich den roten Faden nicht ganz entdeckt. Vielleicht ist der auch gar nicht gewollt. Sinnenfällig ist natürlich der «Parthenon der verbotenen Bücher». Das ist das Fotoobjekt in Kassel. Ich habe persönlich zwei Bibeln dazu zur Verfügung gestellt. Die Bibel ist etwa in Saudi-Arabien oder in Nordkorea verboten. Optisch ist dieser Parthenon etwas ganz Besonderes. Ich finde auch den Obelisk auf dem Königsplatz sehr spannend. Da kann ich mir gut vorstellen, dass er dort stehen bleibt, zumal er explizit ein Wort Jesu – «Ich bin ein Fremder gewesen» – aufnimmt. Dieser Satz Jesu aus dem Gleichnis von Matthäus 25 ist dort in verschiedenen Sprachen dargestellt. Dies zeigt mir auch, wie in anderen kulturellen Zusammenhängen der Glaube kulturprägend sein kann. Es hätte sich wahrscheinlich kein deutscher Künstler erlaubt, auf ein explizit biblisches Zitat zurückzugreifen. Andere können das scheinbar. Ganz spannend ist zudem die Installation in der «Neuen Neuen Galerie», der Hauptpost, in der es um die Ermordung von Halit Yozgat im Jahr 2006 in Kassel durch den NSU geht. Hier vollzieht sich der Übergang von Kunst zur Dokumentation. Und die Art und Weise, wie minutiös versucht wird, das Geschehen in der Holländischen Straße zu rekonstruieren, hat etwas tief Bewegendes. Die Installation gibt zumindest den Anstoß, an der bisherigen Darstellung des Mordes Zweifel zu haben. Und wenn die Kunst den Zweifel lehrt, nicht alles gleich hinzunehmen, dann finde ich Kunst ausgesprochen wichtig.

Fischer: Wie interpretieren Sie den kuratorischen Ansatz, der sich unter anderem in dem Satz ausdrückt: «Von Athen lernen?»

Bischof Hein: Man kann historisch natürlich von Athen lernen. Ich habe ein altsprachliches Gymnasium besucht und habe Griechisch gelernt. Demosthenes und Perikles als Gestalter des Staatswesens, Sokrates, Platon und Aristoteles als Begründer des abendländischen Denkens – in dieser Hinsicht lernen wir bis heute von Griechenland und von Athen. Aktuell fällt es mir etwas schwer, ausgerechnet von Griechenland zu lernen. Das Land der Hellenen, wie es früher war, gibt es nicht mehr. Trotzdem will ich die Bemühungen der griechischen Regierung um Konsolidierung nicht klein reden. Da tut sich was.

Fischer: Evangelische Kirche und Documenta – das hat auch eine lange Geschichte, mal so, mal so. Wie ist es zurzeit um das Verhältnis von evangelischer Kirche und Documenta bestellt, Herr Bischof?

Bischof Hein: Das Verhältnis ist ausgesprochen entspannt. Wir haben ja derzeit in Kassel eine Dependance der großen Wittenberger Ausstellung «Luther und die Avantgarde». Ich bin ausgesprochen dankbar, dass eine Künstlerin und ein Künstler ihre Exponate in der Karlskirche zugänglich gemacht haben. Aber wir haben diesen Beitrag zu der Weltausstellung «Luther und die Avantgarde» nie als Konkurrenz zur Documenta verstehen wollen. Warum auch? Die Documenta ist die Documenta. Und unsere Ausstellung in der Karlskirche liegt zufällig in der Zeit der Documenta, aber sie hat ein eigenes Konzept und erfreut sich großer Beliebtheit. Im Übrigen muss ich sagen: Nachdem der Ansatz der vorherigen Kuratorin der Documenta 13 darauf hinauslief, alles «Menschliche» möglichst auszublenden, ist der gegenwärtige Ansatz, soweit ich ihn erkenne, sehr viel offener. Also: keinerlei Konkurrenz. Die Documenta hat es nicht nötig, irgendwie begleitet zu werden – und wir müssen uns unsererseits nicht krampfhaft von der Documenta abgrenzen.

Fischer: Werfen wir einen Blick auf die Zukunft unserer Landeskirche. Die Weichen für den Finanzkurs unserer Landeskirche sind ja mit Blick auf das Jahr 2026 gestellt. Das ist im Fluss. Wo sind wir gerade in diesem Prozess?

Bischof Hein: Ja, wir sind mittendrin. Der Prozess ist schwierig, weil er eine Fülle von Konsequenzen beinhaltet. Wir merken jetzt, was wir uns mit den Beschlüssen im Jahr 2015 alles zugemutet haben. Das muss rechtsförmig umgesetzt werden. Es muss so umgesetzt werden, dass es nachvollziehbar und überprüfbar ist. Hier sind alle landeskirchlichen Ausschüsse, die Abteilungen im Landeskirchenamt, aber auch die Kirchenkreise beteiligt. Wir stehen weiterhin unter einem starken Zeitdruck. Trotzdem plädiere ich dafür, jetzt nicht bestimmte Entscheidungen im Blick auf Einsparungen zurückzustellen, sondern auf dem eingeschlagenen Weg konsequent und mit dem nötigen Augenmaß weiterzugehen. Bestätigt wird diese Linie durch die Tatsache, dass wir in diesem Jahr erstmals bei den Kirchensteuern unter dem Aufkommen des vergangenen Jahres liegen, so dass sich der Konsolidierungskurs, den wir bewusst angegangen sind, als notwendig herausstellt. Wir können nicht einfach so weitermachen wie bisher! Wir müssen realisieren, dass der Verlust an Mitgliedern vor allem die Kirchensteuerzahler betrifft. Ich bedaure es sehr, dass im Vergleich zu früheren Jahren immer mehr Menschen die Kirche verlassen, mit denen wir gemeinsam gern Gemeinde erfahren und leben würden.

Fischer: Wo sehen Sie einen wirkungsvollen Ansatzpunkt, genau dieser Entwicklung entgegenzusteuern?

Bischof Hein: Ich glaube, dass es weiterhin dringend notwendig ist, persönliche Begegnungen zu ermöglichen, Begegnungen mit Pfarrerinnen und Pfarrern, Begegnungen mit Mitarbeitenden in der Kirche. Es hat sich in den letzten zwei Jahren gezeigt, welch hohe persönliche «Mobilisierung» möglich ist, als es um die Frage der Betreuung der Geflüchteten ging. Da haben wir viele Menschen gewinnen können. Aber das hat nicht dazu geführt, dass diese Engagierten wieder in die Kirche eintraten. Wir müssen deutlicher machen, warum es gut ist, in der Kirche zu sein und warum es gut ist, dass die Mitgliedschaft auch mit einem finanziellen Beitrag verbunden ist. Es geht mir nicht darum, ständig die Kirchensteuern zu erläutern und zu sagen, was wir alles mit dem Geld machen. Es geht darum, evangelischen Christen zu verdeutlichen: Es ist gut, dass Du in der Kirche bist. Da geht es um elementarste Dinge des Lebens. Und wenn Du Dich dieser Gemeinschaft entziehst, wird auch die Gemeinschaft darunter leiden. Ich glaube, dass wir den Gedanken der Gemeinde Jesu Christi wieder stärker in den Blick nehmen müssen. Vielleicht haben wir uns in den vergangenen Jahren zu sehr darauf berufen, was wir alles in dieser Gesellschaft Gutes tun. Das tun wir auch weiterhin. Aber ich meine, es ist ebenso wichtig, die religiöse Dimension, die Beziehung zu Gott, offen und einladend anzusprechen.

Fischer: Auch die Kirchenleitung steht vor großen Veränderungen. Wichtige Persönlichkeiten gehen zurzeit oder in den nächsten Jahren in den Ruhestand oder wechseln in andere Ämter. Neue Gesichter rücken nach oder werden nachrücken. Wie sehen Sie diesen Prozess?

Bischof Hein: Ja, das ist ein Prozess, der in mancher Hinsicht nicht absehbar war, aber der nun notwendig ist. Wir haben in der evangelischen Kirche eine Altersbegrenzung, um die uns manche Katholiken beneiden. Der Wechsel ist also notwendig. Dass er jetzt in einer Zeit kommt, in der auch das Ende meiner eigenen Amtszeit absehbar ist, macht die Sache nicht einfach, aber ich bin überzeugt, dass wir für alle Ämter, die es zu besetzen gilt, sehr gute Nachfolgeregelungen getroffen oder im Blick haben.

Fischer: Welche Kriterien sind denn bei Besetzungen in der Kirchenleitung für Sie maßgebend?

Bischof Hein: Das entscheidende Kriterium ist Kompetenz. Das zweite ist Kommunikationsfähigkeit und das dritte ist etwas, was durchaus nicht einfach ist: Belastungsfähigkeit. Belastungsfähigkeit betrifft nicht nur die körperliche Belastung, sondern auch die Fähigkeit, seelische Belastungen aushalten zu können. Die wird vor allem dann spürbar, wenn Sie anderen gegenüber «Nein» sagen müssen und deren Erwartungen nicht erfüllen.

Fischer: Wie erleben Sie als Bischof diese Belastung?

Bischof Hein: Ich kann auf eine gewisse Berufsroutine zurückschauen und gehe damit – glaube ich – positiv um. Das Stichwort, mit dem sich die Forschung befasst, lautet «Resilienz». Da geht es um die Frage: Warum gelingt es Menschen, trotz starker Herausforderungen und starker Belastungen fröhlich und zuversichtlich zu leben? Mir hilft der Glaube, mein tiefes Vertrauen in den Beistand Gottes, ungemein, über manches hinwegzukommen, was mich verletzt und zu verhärten droht. Oder um es mit Hanns Dieter Hüsch zu sagen: «Ich bin vergnügt, erlöst, befreit. Gott nahm in seine Hände meine Zeit.»

Fischer: Die Sommerferien stehen vor der Tür. Wo wollen Sie in diesem Jahr Ihren Urlaub verbringen und was wollen Sie in Ihrem Urlaub unternehmen, Herr Bischof?

Bischof Hein: In diesem Urlaub geht es in die Schweiz, zunächst in eine Ferienwohnung im Tessin. Da möchte ich schlicht entspannen, lesen, wandern – gemeinsam mit meiner Frau. Die Höhenwege im Tessin sind nicht allzu anspruchsvoll. Die anstrengenderen Wanderungen habe ich in diesem Jahr schon in Südtirol gemacht. Und dann möchte ich – das ist ein alter Traum von mir – zwei Bergmassive einmal in der unmittelbaren Realität betrachten: Das eine ist das Matterhorn, das ich bisher nur von oben aus dem Flugzeug gesehen habe. Also fahren wir nach Zermatt – in der Hoffnung, dass dort kein Nebel herrscht. Und abschließend verbringen wir einige Tage in Grindelwald. Da betrachte ich dann Eiger, Mönch und Jungfrau und sinne darüber nach, warum uns die Eiger-Nordwand so sehr fasziniert.

Fischer: Herr Bischof, dann wünsche ich Ihnen und Ihrer Frau eine erfüllte Zeit in den Bergen und bedanke mich ganz herzlich für das Gespräch.

Bischof Hein: Vielen Dank!

(06.07.2017)