Redaktion ekkw.de
Veröffentlicht 06 Jul 2009

Kassel (medio). In einem ausführlichen Interview mit der landeskirchlichen Medienagentur «medio!» hat der Bischof der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, Prof. Dr. Martin Hein, kurz vor seinem Sommerurlaub zu aktuellen Fragen Stellung genommen.

Fischer: Herr Bischof, viele Menschen bewegt zurzeit die Frage, wie sich die Situation im Iran sowie im Mittleren und Nahen Osten entwickelt. Im Iran fordern die Menschen Demokratie ein. Wie freiheitlich können und sollten aus Ihrer Sicht islamisch geprägte Gesellschaften sein?

Bischof Hein: Islamische Gesellschaften sollten so freiheitlich wie nur möglich sein. Was wir gegenwärtig im Iran erleben, ist aus meiner Sicht der Versuch, stärkere Beteiligungsrechte zu bekommen, ohne die Grundsätze der so genannten islamischen Revolution infrage zu stellen. Auch die Demonstranten äußern sich auf der Straße ja mit dem Ruf, mit dem damals Chomeini an die Macht gekommen ist: „Allah ist groß“. Das Ganze zeigt, dass der Vordere Orient nicht über einen Kamm zu scheren ist. Die Probleme, die es im Iran gibt, sind andere als diejenigen, die etwa in Israel, Palästina oder im Libanon zu verzeichnen sind. Meine Begegnungen im Vorderen Orient zeigen mir zunehmend, wie komplex die Gesamtlage ist.

Fischer: Es geht auch um das Verhältnis zwischen Christen und Muslimen, zwischen Islam und dem Christentum. Sie haben sich in dieser Frage in letzter Zeit sehr engagiert. Welche Erfahrung haben Sie im Dialog zwischen Christen und Muslimen in diesem Jahr gemacht?

Bischof Hein: Vielleicht ist Dialog ein zu großes Wort für das, was wir gegenwärtig tun. Wir begegnen uns eher. Wenn sich Menschen guten Willens begegnen, dann entsteht ein Klima des gegenseitigen Respekts, vielleicht sogar des gegenseitigen Vertrauens. Wir haben in Hessen inzwischen auf der Ebene der beiden evangelischen Kirchen mit einigen islamischen Religionsverbänden regelmäßige Kontakte. Wir haben auch eine Verlautbarung über den Umgang mit Menschen, die die Religion wechseln, herausgegeben. Das fand ich unter den Bedingungen, unter denen islamische Theologen und Politiker denken, schon einen sehr weit reichenden Schritt.
Auf dem Kirchentag in Bremen habe ich eine Dialog-Bibelarbeit mit einer engagierten schiitischen Muslima gehalten. Und es hat sich gezeigt, dass es immer dann ein gegenseitiges Verständnis gibt, wenn man nicht die großen theologischen und politischen Fragen in den Vordergrund rückt, sondern danach fragt „Was können wir zur Verbesserung eines gemeinsamen Miteinander-Lebens tun?“ Mein Vorschlag geht dahin, in der Begegnung mit Menschen islamischen Glaubens nicht von vornherein auf die großen Fragen zu sprechen zu kommen, sondern klein anzufangen. Das gelingt, und dann kann man auch gegenseitige Ängste abbauen und sich in einem offenen Gespräch begegnen.

Fischer: Wie sollte aus Ihrer Sicht ein Dialog zwischen beiden Religionen aussehen? Wo soll er ansetzen, wo soll er beginnen?

Bischof Hein: Der Dialog beginnt meines Erachtens vor Ort. Da ist noch weiterhin vieles zu tun. Lange Zeit haben sprachliche Barrieren den Dialog erschwert. Mit der zweiten und inzwischen dritten Generation der Muslime in Deutschland ist das nicht mehr das Entscheidende. Ich möchte gerne Gemeinden in unserem Bereich ermutigen, zu schauen, wo in ihrem Umfeld muslimische Verbände tätig sind, wo es Moscheen gibt. Die Aktion der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland „Lade deinen Nachbarn ein“ kann über die Grenzen der christlichen Kirchen hinaus erweitert werden. Es gilt auch zu entdecken: Was glauben andere Menschen, die hier in Deutschland leben und die sich ausdrücklich als religiös bezeichnen. Mir fällt auf, dass auch viele gebildete Muslime im Grunde immer noch eine sehr geringe Kenntnis im Blick auf die Geschichte und Bedeutung der Kirchen in Deutschland haben. Das gegenseitige Nicht-Wissen ist auf beiden Seiten sehr ausgeprägt.

Fischer: Vor kurzem wurde der Dialog in Hessen durch die geplatzte Verleihung des Hessischen Kulturpreises an den muslimischen Schriftsteller Navid Kermani belastet. Was ist dort schief gelaufen und wie kann es jetzt weiter gehen?

Bischof Hein: Ich kann und will mich zu den Details nicht äußern. Das Ganze ist nicht nur ein Konflikt zwischen Vertretern des Islams und der christlichen Kirchen. Zuvor hatte schon ein Moslem die Annahme des Kulturpreises verweigert, weil er mit der politischen Position des jüdischen Vertreters nicht einverstanden war. Spätestens da zeigte sich, wie komplex die Verleihung dieses Preises an Menschen unterschiedlicher Religionen ist. Worum es jetzt gehen wird, ist, jenseits der Mikrofone intern zu einer Verständigung der Preisträger untereinander zu kommen. Ob es geraten erscheint, in diesem Jahr den Preis zu verleihen, das mögen andere entscheiden.

Fischer: Herr Bischof, wenden wir uns der Situation in Deutschland zu. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie das Wort Krise hören?

Bischof Hein: Damit assoziiere ich zunächst die Worte Krisenmanagement und Krisenbewältigung. Dabei geht mir unmittelbar durch den Kopf: Es muss unheimliche Summen von Geld geben, die plötzlich vorhanden sind und von denen wir früher gar nichts geahnt haben, wenn wir etwa politisch im Sozialbereich um Kleinigkeiten kämpfen mussten. Jetzt ist das Geld plötzlich da! Die Rechnung wird uns spätestens nach der Bundestagswahl präsentiert werden. Ich halte diese „Geschenkemacherei“ im Vorfeld der Wahl für schlichtweg politisch unverantwortlich. Das bedeutet nicht, dass keine Stützungsmaßnahmen durchgeführt werden müssten. Aber wenn darüber hinaus auch noch davon gesprochen wird, jetzt Steuern senken zu wollen oder das Rentenniveau festzuschreiben – unabhängig davon, wie sich die Löhne entwickeln –, dann ist das nicht verantwortbar.

Fischer: Wie sollte die Politik aus Ihrer Sicht mit dieser Krise umgehen? Wo wurden Fehler gemacht?

Bischof Hein: Die Fehler sind ja nicht in der Politik, sondern zunächst in der Wirtschaft gemacht worden. Und zwar massiv. Unter dem Wahn einer unendlichen Vermehrbarkeit des Geldes sind alle Sicherungen gelöst worden, die früher im Zusammenhang eines verantwortungsvollen wirtschaftlichen Handelns einbezogen waren. Man hat geglaubt, das Ganze vermehrt sich in einer Weise, die geradezu naturgesetzlich ist. Politiker sind auf dieser Welle mitgesurft. Man hat alle diejenigen, die ordnungspolitische Forderungen gestellt haben, als rückständig dargestellt. Die Rechnung wird uns jetzt präsentiert. Es ist nicht allein die Gier nach mehr Geld, sondern auch der Verlust an Realität, den ich beklage. Nun hat die Politik die schwierige Aufgabe, sich genau um die Fragen kümmern zu müssen, von denen ihnen früher Wirtschaftsbosse gesagt hatten, dass sie davon keine Ahnung hätten. Das ist schon ausgesprochen eigenwillig. Was mich in der Tat verwundert, ist, wie schnell unter dem äußeren Druck nun nach Rezepten geschaut wird, die sehr viel Geld kosten und deren langfristige Auswirkung zumindest fraglich ist.

Fischer: Zurzeit wird das Problem auf die Frage zugespitzt: Soll der Staat helfen, und wenn ja, wo?

Bischof Hein: Ich bin kein Politikberater. Nur so viel: Das kommt auf die jeweilige Situation an. Manchmal ist eine Insolvenz besser, vor allem dann, wenn es gelingen könnte, mittel-, vielleicht aber auch langfristig Arbeitsplätze zu sichern. Und um einem Unternehmen wieder auf die Beine zu helfen, halte ich nach eingehenden Prüfungen auch Finanzspritzen für sinnvoll. Insgesamt ist zu sagen: Man kann nicht auf der einen Seite eine Marktwirtschaft propagieren – und auf der anderen Seite anderen Teilnehmern am Markt mit massiven Finanzbeihilfen unter die Arme greifen. Das verzerrt natürlich. Es bestraft zu einem gewissen Teil auch jene, die versucht haben, zurückhaltender zu agieren, und die jetzt nicht auf staatliche Unterstützung angewiesen sind. Gerade im mittelständischen Bereich werden auffallend viele Unternehmen, weil sie weniger Arbeitsplätze haben, nicht unter den großen Schirm des Staates geschoben, sondern im Regen stehen gelassen.

Fischer: Wie beurteilen Sie den öffentlichen Diskurs über dieses Ungleichgewicht?

Bischof Hein: Ich habe Ende letzten Jahres gesagt, dass die Medien einen Beitrag leisten können, die Diskussion zu versachlichen. Auf die Krise bezogen: Am Anfang hat man besonders erregt die Folgen beschrieben. Inzwischen habe ich den Eindruck, dass die Berichte auf den hinteren Seiten der Zeitung erscheinen. Man hat sich daran gewöhnt. Das Thema ist für die Medien weitgehend gegessen.

Fischer: Wie beurteilen Sie das?

Bischof Hein: Ich habe den Eindruck, dass die meisten Medien nicht unbedingt an einer langfristigen Verfolgung von Themen interessiert sind, sondern dass sie in erster Linie auf aktuelle Erregungszustände reagieren, um hinterher schnell wieder das Thema fallen zu lassen.

Fischer: Und welche Rolle kann und soll die Kirche in dieser Krise spielen?

Bischof Hein: Zunächst muss man deutlich sagen: Wir haben vor dieser überdrehten überhitzten Anbetung des freien Marktes immer gewarnt und uns im globalisierten Zusammenhang für ordnungspolitische Maßnahmen eingesetzt. Dass wir an dieser Stelle Recht behalten haben, ehrt uns, lässt uns aber natürlich nicht gefeit sein vor politischen Fehlern. Kirchen können nicht die bessere Politik machen. Dafür sind sie nicht da! Dafür gibt es Politikerinnen und Politiker. Aber Kirchen können sehr wohl darauf hinweisen, dass gerade in diesen Zeiten auch jene berücksichtigt werden müssen, auf die nicht der Fokus des öffentlichen Interesses fällt. Wenn man sich etwa Tendenzen vor Augen führt, dass durch die Einführung von Hartz IV eine stärker voranschreitende Verarmung stattfindet, so halte ich das für einen Punkt, auf den die Kirchen hinweisen müssen.
Zum anderen ist ganz deutlich: Wir müssen weiterhin für eine Intensivierung der staatlichen Bildungsbemühungen eintreten, denn es gibt zwischen Armut und fehlender Bildung einen offenkundigen Zusammenhang. Armut macht einsam, einsam macht arm. Aber wer keine Bildungsvoraussetzungen mitbringt, hat eben keine Chance, aus dieser Armut und damit auch aus dieser Einsamkeit herauszukommen. Ich glaube: Das sind die Punkte, die wir in den Gesprächen mit den politisch Verantwortlichen immer wieder vorbringen werden.

Fischer: Also Bekämpfung der Armut und Bemühungen in der Bildung als zentrale kirchliche Antworten auf die Krise?

Bischof Hein: Ja. Das ist das eine. Aber wir müssen auch einstehen für bestimmte Grundhaltungen. Wir gehen als Christen davon aus, dass diese Welt Gottes Schöpfung ist und dass Gott sie in Christus liebt. Das lässt uns gelassener werden und gleichzeitig auch verantwortungsvoller. Wir wissen: „Wir müssen nicht alles aus uns selbst schaffen.“ Das zu vermitteln, dazu gibt es Gottesdienste und kirchliche Veranstaltungen. Das ist die Grundvoraussetzung, von der wir als Christen in dieser Welt leben.

Fischer: Und was können Pfarrerinnen und Pfarrer in der Krise tun?

Bischof Hein: Ich habe vor den Sommerferien einen Brief an alle Pfarrämter geschrieben mit der Bitte, dass sich die Kirchengemeinden konkret mit der Situation der Unternehmen beschäftigen, die im Bereich ihrer Gemeinden liegen, und dass sie dort Besuche machen und nachfragen: Das können Handwerksbetriebe, mittelständische Unternehmen oder Großbetriebe sein. Wir sollten uns mit der unmittelbaren Situation der betroffenen Arbeitsgeber und Arbeitnehmer stärker befassen. Ich habe vor einigen Wochen einen größeren Betrieb der Autozuliefererbranche besucht. Sowohl Geschäftsleitung als auch der Betriebsrat haben das als sehr hilfreich empfunden. So etwas muss nicht nur der Bischof, sondern können auch Gemeindepfarrerinnen und Gemeindepfarrer tun, um sich ein konkretes Bild von den Auswirkungen der wirtschaftlichen Lage zu verschaffen.

Fischer: Also eine Kirche, die auf die Menschen in den Betrieben zugeht. Nun wird von manchen beklagt, dass der Einfluss der Kirchen generell in Deutschland schwindet und die Evangelische Kirche in Deutschland versucht, mit ihrem Programm „Kirche im Aufbruch“ dagegen zu halten. Was kann eine Dachorganisation wie die EKD tun, um den christlichen Glauben und die Kirche in Deutschland zu stärken?

Bischof Hein: Ob der Einfluss der Kirchen schwindet, sei dahingestellt. Wir haben es aber zunehmend auch mit einem kämpferischen Atheismus zu tun. Also nicht nur mit Menschen, denen Religion egal ist, sondern wir haben es mit Menschen zu tun, die Religion nicht wollen und die Religion als schädlich ansehen. Darauf muss man sich selbstbewusst einstellen. Insofern ist es wichtig, dass wir uns als Evangelische Kirche fragen: Was ist unser Beitrag für das Leben der Menschen in diesem Land? Es geht nicht in erster Linie um uns als Evangelische Kirche, sondern es geht um die Frage, wie das Zeugnis des christlichen Glaubens in seiner evangelischen Ausprägung für die Menschen hilfreich und segensreich verwirklicht werden kann. Und dazu ist es sicher sinnvoll, dass wir die Kräfte innerhalb des zersplitterten Protestantismus in Deutschland stärker bündeln. Das ist das Programm, das sich mit dem Stichwort „Kirche der Freiheit“ verbindet.

Fischer: Im September dieses Jahres werden sich 1.200 geladene Vertreterinnen und Vertreter aus den Gliedkirchen der EKD und den Kirchlichen Werken zur Zukunftswerkstatt 2009 in Kassel treffen. Herr Bischof, was erwarten Sie von diesem Kongress?

Bischof Hein: Kassel wird ein Erfolg!

Fischer: Was heißt das?

Bischof Hein: Ich glaube, dass von diesem Kongress, der hier in erster Linie Menschen vereint, die ihrerseits als so genannte „Multiplikatoren“ tätig sind, Impulse ausgehen. Ich erwarte, dass das Programm „Kirche der Freiheit“ nicht nur eine Floskel bleibt oder nur in den Köpfen von Funktionären sein Leben führt, sondern dass es geerdet wird. Und dass von hier aus ein Anschub geschieht, denn wir wollen die Realität unserer Gemeinde in den Blick nehmen. Es ist wirklich ein ganz wichtiger Versuch, Menschen mit ins Boot zu holen und in eine gemeinsame Richtung zu fahren.

Fischer: Wie wird sich in Kassel die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck präsentieren?

Bischof Hein: Wir wollen Orte der Begegnung bieten, Orte der Verkündigung, sehr unkonventionelle Orte, wie das auch vom Programm des Zukunftskongresses her angedacht ist.

Fischer: Unkonventionelle Orte? Das klingt interessant...

Bischof Hein: Es wird zum Beispiel Andachten im Bundessozialgericht und im Museum für Sepulkralkultur geben, ich selbst werde eine Andacht in der Geschäftsleitung des Dax-Unternehmens K+S halten, vielen noch unter dem Namen „Kali und Salz“ vertraut. Das Thema der Andacht: „Ihr seid das Salz der Erde!“ – Es gibt sogar eine Morgenandacht in einer Markthalle und einer Einkaufsgalerie: alles Orte, die auch einen religiösen Bezug haben können, aber nicht müssen. Im Zusammenhang mit einer Firma wie K+S über das Bildwort Jesu „Ihr seid das Salz der Erde“ nachzudenken, oder in einer Markthalle über die Schöpfung nachzudenken, finde ich ausgesprochen spannend. Da bietet Kassel mehr als manche auf den ersten Blick glauben wollen.

Fischer: Spannend wird es in der EKD sicher auch im Herbst, wenn wichtige Personalentscheidungen anstehen. Auch der oder die Ratsvorsitzende wird gewählt. Welche Eigenschaften sollten den oder die zukünftige Ratsvorsitzenden/Ratsvorsitzende auszeichnen?

Bischof Hein: Ich denke, der eingeschlagene Weg im Programm „Kirche der Freiheit 2017“ ist unumkehrbar. Diesen Weg muss auch eine künftige Ratsvorsitzende oder ein künftiger Ratsvorsitzender wollen. Allerdings geht es darum, diesen Weg zu verbreitern, damit ihn möglichst viele mitgehen.
Ich habe trotz aller Anstrengungen, die bisher gemacht wurden, den Eindruck, dass dieser Prozess an der Basis noch nicht richtig angekommen ist. Das bedeutet, eine künftige Ratsvorsitzende oder ein künftiger Ratsvorsitzender wird sich sehr stark auch mit den theologischen und ekklesiologischen Fragen beschäftigen müssen. Es kann allerdings nicht darum gehen, dass wir eine institutionalisierte Dauerdiskussion über die Struktur der EKD haben. Das interessiert niemanden. Wir müssen deutlich machen, was uns als Protestanten in Deutschland bewegt. Wir müssen darstellen, warum es gut ist, dass es uns als Evangelische Kirche seit 500 Jahren gibt, nicht zuletzt feiern wir im Jahr 2017 das große Reformationsjubiläum. Um dies darzustellen, braucht es eine entsprechend qualifizierte Ratsvorsitzende oder einen entsprechend qualifizierten Ratsvorsitzenden. Und was solch eine Person auch noch auszeichnen muss: eine ganze Menge Gottvertrauen.

Fischer: Sie hatten in diesem Jahr auch einen Vorschlag gemacht, an welchem Ort der Ratsvorsitzende als Institution angesiedelt werden sollte...
 
Bischof Hein: Aufgrund der Erfahrungen im Ratsvorsitz von Bischof Huber hatte ich den Vorschlag gemacht, einen Leitenden Bischof mit Sitz in der Bundeshauptstadt Berlin für die Gemeinschaft der EKD einzurichten. Anstelle des Leitenden Bischofs kann man auch von einem Erzbischof sprechen. Man kann sich vorstellen, dass diese Formel bereits auf heftige Kritik gestoßen ist. Aber ich hielt es für wichtig, diesen Stein ins Wasser zu werfen. Zumindest ist recht intensiv darüber debattiert worden. Ich glaube nicht, dass dieser Vorschlag in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren eine Chance der Verwirklichung hat. Aber wir können ja mal sehen.

Fischer: Da darf man gespannt sein. Werfen wir jetzt einen Blick auf Hessen. Am letzten Wochenende haben sich die beiden Synoden aus der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau und der von Kurhessen-Waldeck zu einem ersten gemeinsamen Studientag in Marburg getroffen. Wie lautet Ihr persönliches Resümee?

Bischof Hein: Es ist gut gewesen, dass er stattgefunden hat. Es muss noch häufiger solche Begegnungen geben, damit Vorbehalte auf beiden Seiten abgebaut werden. Es war ein richtiger Startschuss in die richtige Richtung. Inhaltlich hat er nicht soviel Klärungen gebracht, wie man das vielleicht von mancher Seite erwartet hatte. Das war allerdings auch gar nicht die Aufgabe solch eines Studientages, an dem ja nicht alle Synodalen teilgenommen haben, das ist Aufgabe der Ausschüsse, in den Kammern und dann letztlich der Synoden selbst.

Fischer: Der Kooperationsprozess soll in diesem Jahr mit ersten Beschlüssen zu den Bereichen Akademiearbeit, Mission und Ökumene, Religionspädagogik sowie Theologische Aus- und Fortbildung wichtige Weichen stellen. Welche konkreten Ergebnisse können Sie denn schon heute nennen?

Bischof Hein: Das einzige, was gegenwärtig feststeht, ist, dass es im Herbst entsprechende Vorlagen geben wird. Wobei wir davon ausgehen, dass die Vorlagen in ihrer Tendenz unterschiedliche Reichweiten haben könnten. Es wird also möglicherweise eine, ich sage es ganz bewusst so, „Kooperation der unterschiedlichen Geschwindigkeiten“ geben. Ich nehme hier ein Wort aus der Debatte um den Europäischen Einigungsprozess auf. Wie das im Einzelfall aussieht, kann ich nicht vorweg nehmen. Am weitesten sind neben den vier innerkirchlichen Kooperationsgebieten unsere Diakonischen Werke. Hier hat es ja in diesem Jahr auch die Gründung einer gemeinnützigen Tochtergesellschaft „Diakonie Hessen“ gegeben. Erklärtes Ziel ist, in absehbarer Zeit zu einer Fusion beider Diakonischer Werke zu kommen. Wenn man diese Entscheidung getroffen hat, dann wird man ganz viele Steine sehen, die zu beseitigen sind. Aber wenn man sich über das Ziel klar ist, dann werden die Steine, je näher man an sie herankommt, auch kleiner.

Fischer: Das Wort „Fusion“ war in Marburg auch zu hören, allerdings als Vision für die Zukunft der beiden Landeskirchen. Wo ordnen Sie dieses Wort bei dem jetzigen Stand der Kooperation ein?

Bischof Hein: Ich ordne es genauso da ein, wo ich es früher eingeordnet habe. Nämlich als nicht aktuell. Ich sage es ganz klar: Eine Fusion steht nicht zur Debatte.

Fischer: Herr Bischof, auch in unserer Landeskirche geht es um Reformen. Hier hat der Rat der Landeskirche das Tempo der Strukturreform erhöht und konkrete Vorgaben gemacht. Welche sind das?

Bischof Hein: Wir haben als Rat der Landeskirche den Gemeinden bis zum Jahr 2017 konkrete Vorgaben gemacht. Ich bin dankbar, dass diese Vorgaben einstimmig vom Rat beschlossen wurden. Bis zum Jahr 2017 sollen die Kirchenkreise eine Pfarrstellenzahl zwischen 25 und 40 Pfarrstellen haben, wobei halbe Pfarrstellen natürlich arithmetisch eingerechnet werden. Da der Beschluss auf der Synode keinen Widerspruch erfahren hat, können jetzt alle Kirchenkreise schauen, liegen wir innerhalb dieses Limits oder liegen wir drunter. Wenn dies der Fall ist, wird man sich mit den Nachbarkirchenkreisen zusammenschließen müssen. Wenn das bis zum Jahr 2015 nicht geschehen ist, so lautet der Beschluss, wird der Rat seinerseits die entsprechenden Maßnahmen ergreifen. Das ist ein überschaubarer Zeitraum. Hier wird nichts übers Knie gebrochen. Aber es ist seit diesem Jahr klar, in welche Richtung der Zug fährt.

Fischer: Wie sieht seitdem die Stimmung in den Kirchenkreisen aus?

Bischof Hein: In den Kirchenkreisen herrscht sehr viel mehr Realitätssinn, als man es manchmal glaubt. Und wir haben es leider mit dem bedrückenden Phänomen zu tun, dass wir weniger werden. Die Landeskirche verändert an dieser Stelle keine Relationen. Die Formel, dass auf rund 1.680 Gemeindeglieder eine volle Gemeindepfarrstelle kommt, die bleibt. Was sich leider verändert, das sind die Zahlen in den Gemeinden. Man darf also nicht der Landeskirche den Vorwurf machen, wir würden etwas verändern, sondern die Gemeinden ihrerseits vollziehen einen schmerzhaften Prozess. Wir bleiben weiterhin bei dieser Bemessungsformel für Gemeindepfarrstellen. Und das bezieht sich in gleicher Weise auch auf die Kirchenkreise. Wir wollen nicht unsererseits mit aller Macht Kirchenkreise zerschlagen. Warum denn auch? Dafür gibt es gar keinen Anlass. Aber Kirchenkreise erreichen zum Teil im unteren Bereich eine Größe, die sie nicht mehr in die Lage versetzt, bestimmte Aufgaben angemessen zu erfüllen. Und da kann es nur nahe liegen, sich mit dem Nachbarkirchenkreis zusammenzuschließen.

Fischer: … in der Region Kassel war es durchaus umstritten, wie der künftige Weg aussehen soll …
 
Bischof Hein: Wir setzen zurzeit auf Selbststeuerung. Insofern äußere ich mich zu den Detailproblemen hier in der Region Kassel nicht.

Fischer: Was kann die Kirchenleitung beitragen, um den Reformprozess zu einem positiven Abschluss zu bringen?

Bischof Hein: Was wir tun können, ist ein klares zeitliches Limit zu setzen. Bis 2015 müssen die Weichenstellungen vorliegen. Bis 2017 ist dieser Prozess abgeschlossen. Das zweite, was wir tun können, ist eine klare politische Vorgabe zu geben. Ich bin unendlich dankbar, dass sich der Rat entschlossen hat, diese politische Entscheidung zu treffen. Ich erlebe es in Gesprächen in den Kirchenkreisen, dass jetzt ein Aufatmen durchgeht, weil man Klarheit hat. Man mag die Auswirkungen nicht wollen, aber man hat wenigstens  Klarheit, worum es geht. Und das hilft zu einer stärkeren Wahrnehmung der Wirklichkeit in unserer Landeskirche. Es lässt sich eben nicht leugnen, dass wir in den vergangenen neun Jahren über 70.000 Gemeindeglieder weniger geworden sind, wenn auch am allerwenigsten durch Kirchenaustritte.

Fischer: Herr Bischof, bald ist Ferienzeit. Für uns im Sommerinterview die Gelegenheit, ein kleines Zwischenresümee des Jahres zu ziehen. Was hat Sie in den vergangenen Monaten am meisten beschäftigt?

Bischof Hein: Also neben den großen Themen, die wir erörtert haben, auch gewisse Veränderungen im gesellschaftlichen Klima. Im Blick auf die so genannte „aktive Sterbehilfe“ merke ich, dass sich bei uns allmählich eine Tendenz breit macht, der angeblichen Autonomie des Einzelnen einen erheblichen Vorrang einzuräumen. Man begegnet den Kirchen oft mit dem Vorwurf des Paternalismus, also der übertriebenen Fürsorge oder gar Bevormundung. Das bedrückt mich schon. Ich versuche, in den Diskussionen an dieser Stelle auch deutlich zu machen, dass eine Gesellschaft, die menschlich und damit solidarisch sein will, nicht darauf verzichten kann, auch die Fürsorge für menschliches Leben zum Ausdruck zu bringen.
Was mich darüber hinaus auch bewegt hat, damit will ich gar nicht hinter dem Berg halten, ist die Fertigstellung des großen Projektes der Renovierung des Predigerseminares und der damit verbundenen Kapelle, die der bekannte Architekt Meinhard von Gerkan erbaut hat. Ein Projekt, das sicher umstritten gewesen ist, aber das jetzt, nachdem wir es ausschließlich aus Spendermitteln haben finanzieren können, einen architektonischen Glanzpunkt setzt – auch in der Kirchbaugeschichte unserer Landeskirche, Es ist ein ausgesprochen ungewöhnliches Projekt, mit dem ich mich gerne in den vergangenen Monaten befasst habe.

Fischer: Und wenn wir auf die zweite Jahreshälfte sehen. Wo möchten Sie hier einen Schwerpunkt legen?

Bischof Hein: Spannend wird es sicher im Zusammenhang meiner Mitarbeit im Zentralausschuss des Weltkirchenrates in Genf. Ende August steht die Wahl eines neuen Generalsekretärs an und damit auch die Frage, wie wird es auf Dauer mit dem Ökumenischen Rat der Kirchen weitergehen, wohin wird er sich bewegen und wie lässt sich die ökumenische Bewegung insgesamt auf gute Füße stellen? Das ist eine Fragestellung, die mich auch in den vergangenen Monaten etwa im Verhältnis zu unseren römisch-katholischen Brüdern immer wieder beschäftigt hatte. In Genf wird es jetzt ganz konkret.
Das andere ist: Unsere Synode wird im Herbst zum letzten Mal in dieser Zusammensetzung tagen. Das bedeutet, dass wir angestoßene Projekte jetzt zu Ende bringen müssen. Es ist also viel Kleinarbeit, die ansteht, damit wir dann im nächsten Jahr frei sind, den Blick über unseren Tellerrand hinaus zu weiten.

Fischer: Worauf freuen Sie sich, wenn Sie an die vor uns liegende Ferienzeit denken?

Bischof Hein: Ich freue mich auf Sonnenschein, von dem ich ausgehe, dass er dort, wo ich hinfahre, auch vorhanden ist. Wir fahren wie im letzten Jahr wieder nach Sizilien, machen aber vorher noch einen Stopp in Rom. Aber nicht, um irgendwelche kirchlichen Dinge zu regeln, sondern um schlicht einmal wieder dieser wunderschönen Stadt zu begegnen. Im Anschluss geht es dann erneut nach Sizilien. Worauf ich mich da freue? – Wunderbare Ausblicke aufs Meer, der beeindruckende Ätna, herrliche, kleine Städte, die wir bereisen werden, viel Geschichte.

Fischer: Das hört sich gut an. Herr Bischof, wir wünschen Ihnen einen erholsamen Urlaub und eine gesegnete Zeit. Vielen Dank für das Gespräch. (06.07.2009)

Die Fragen an Bischof  Hein stellte Pfarrer Christian Fischer am 25. Juni 2009.