Redaktion ekkw.de
Veröffentlicht 22 Nov 2017

Bischof Prof. Dr. Martin Hein stellte sich den Fragen von Pfarrer Christian Fischer, Leiter des Medienhauses der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, am 22.11.2017 in Kassel.

Fischer: Herr Bischof, Sie setzen in Ihrem Bericht vor der Herbstsynode mit dem Titel «Bejahte Freiheit» auf das Thema Kirche und Staat. Warum dieses Thema in dieser Zeit?

Bischof Hein: Wir leben rund hundert Jahre nach dem Ende des Staatskirchentums, das mit der Weimarer Reichsverfassung 1919 besiegelt wurde. Innerhalb dieses Jahrhunderts hat es eine ganze Reihe von Veränderungen auch im Verhältnis von Staat und Kirche gegeben. Ich möchte verdeutlichen, dass sowohl Staat als auch Kirchen in der ihnen zustehenden Freiheit gut miteinander zusammenarbeiten können und dass diese Freiheit auch für andere Weltanschauungsgemeinschaften oder Religionsgemeinschaften gilt. Denn das ausgeprägte Verhältnis, das der Staat zu den Kirchen pflegt, ist kein Privileg, sondern steht auch anderen Gemeinschaften, die Körperschaften des öffentlichen Rechtes sind, zu. Wir befinden uns in einer Pluralisierung unserer Lebenswelt, in der die Kirche ihren Ort hat, aber nicht mehr allein und als alleinige Größe dem Staat gegenüber steht. Wir sind als Kirchen nicht mehr Teil des Staates, sondern wir sind ein Teil der Gesellschaft. Das will ich ausführen und dafür sensibilisieren.

Fischer: Nun gibt es Menschen, die nehmen das Verhältnis von Staat und Kirche noch immer als sehr eng, vielleicht als zu eng war. Was entgegnen Sie diesen Kritikern?

Bischof Hein: In der Tat ist das Verhältnis zwischen Staat und Kirche - auch nach 1919 mit dem Beginn der Weimarer Republik - immer ein recht enges gewesen. Und auch heute ist es so, dass durch das sogenannte «Prinzip der Subsidiarität», wonach der Staats seinerseits soziale Leistungen nicht selbst erbringt, sondern sich dafür der freien Wohlfahrtspflege bedient, sowohl die Caritas als auch die Diakonie noch einen starken Stand innerhalb unserer Gesellschaft haben. Doch verzichtet der Staat auf die totale Ummantelung unseres Lebens, wie er das in totalitären Staaten, übrigens auch in unserer jüngsten Vergangenheit im Nationalsozialismus und im DDR-Kommunismus, getan hat. Er übergibt die Gestaltung des sozialen Lebens - wo es geht - an die freien Wohlfahrtsverbände, und versetzt sie auch finanziell in die Lage, diese Aufgaben zu erfüllen. Wir haben eine plurale Gesellschaft, in der wir auch als Kirche plural auftreten müssen.

Fischer: Werfen wir einen Blick auf die Politik. Auch in den letzten Jahren gab es sehr viele politische Stellungnahmen der evangelischen Kirche. Manche hatten vielleicht das Gefühl, die Kirche hätte die besseren Antworten auf manche politische Frage. Wie sehen Sie das?

Bischof Hein: Ich will es ganz deutlich sagen: Die Kirche ist nicht die bessere Politikgestalterin. Dafür gibt es Parteien, dafür gibt es Regierung und Opposition, dafür gibt es Koalitionen, ganz gleich wie die entstehen, dafür gibt es auch Minderheitsregierungen. Und geregelte Verfahren der Konsensfindung und politischen Willensbildung.

Fischer: Wie sehen Sie die aktuelle Situation nach dem Abbruch der Jamaika-Sondierungen?

Bischof Hein: Die aktuelle Situation ist für mich überhaupt nicht dramatisch, sondern Ausdruck eines demokratischen Gesamtverständnisses. Das Grundgesetz erweist sich wieder einmal als stabilisierender Faktor. Doch wir als Kirchen haben nicht die bessere und schon gar nicht eine göttliche Einsicht in die Verhältnisse. Und unsere Welt ist komplex geworden. Es gibt auf viele Fragen nicht mehr nur eine einzige Antwort, sondern es gibt unterschiedliche und natürlich kontroverse Antwortmöglichkeiten. Wir als Kirchen können allerdings danach fragen, ob mit bestimmten politischen Entscheidungen Gerechtigkeit, Solidarität, aber auch Freiheit, wie wir sie verstehen und wie sie sich aus dem Evangelium ergibt, gewahrt bleiben oder nicht. Und wo wir da Einschnitte spüren, können wir natürlich Kritik üben und Alternativen vorschlagen. Wir üben aber nicht Kritik am Staat, sondern an bestimmten Gesetzes- oder Regierungsentscheidungen. Wir müssen damit leben, dass Regierungen oder politische Akteure sich aus nachvollziehbaren oder auch aus unverständlichen Gründen dem Votum der Kirchen nicht anschließen oder uns sogar vehement widersprechen. Da darf man dann nicht gekränkt sein. Wir leisten einen Beitrag innerhalb der öffentlichen gesellschaftlichen Diskussion, und je überzeugender wir sind, umso höher ist die Gewähr, dass wir gehört werden.

Fischer: Ich höre da durchaus Selbstkritik heraus...

Bischof Hein: In den letzten Jahren hat man schon öfters nicht unterscheiden können, ob etwas eine Verlautbarung der Kirche oder einer politischen Partei ist. Und vor allem war oft nicht erkennbar, wie die Kirche eigentlich zu diesen Positionen kommt. Da muss man sagen: Das Evangelium lässt manchmal nicht nur eine Möglichkeit zu, denn es beschreibt eine Haltung und keine konkreten Normen! Deswegen haben wir selbst als Kirche innerhalb unserer Organisation oder innerhalb unserer Institution erst einmal den Pluralismus zu akzeptieren. Das ist ja das Wunderbare in der evangelischen Kirche, dass wir auf allen Ebenen Synoden und Beteiligungsgremien haben. Da kommen unterschiedliche Positionen, auch hinein bis ins Politische zum Ausdruck, und allmählich formt sich dann so etwas wie ein gemeinsamer Wille, ein Konsens, auch in politischen Fragen. Oder eben auch ein begründeter Dissens.

Fischer: Können Sie ein aktuelles Beispiel nennen?

Bischof Hein: Ich glaube, dass die evangelischen Kirchen hier in Hessen in der Flüchtlingsfrage eminent politisch agiert haben. Aber nicht aus der Tatsache heraus, dass wir die besseren Menschen sind, sondern weil das für uns ein Gebot der Humanität war und ist. Wir haben jede andere Unterstützung in der Flüchtlingsfrage unsererseits zu schätzen gelernt und schätzen sie noch. Also, gerade dieses Feld war ein Feld großer gesellschaftlicher Kooperationen im Sinne der «Polis», des Gemeinwesens.

Fischer: Werfen wir zum Schluss einen Blick in die Zukunft. Wie wird sich dieses Verhältnis von Staat und Kirche weiterentwickeln? Wenn Sie einen Wunsch äußern würden, wie würde der aussehen?

Bischof Hein: Meine Prognose ist, dass in den nächsten zehn Jahren das Verhältnis von Staat und Kirche in der verfassten Form von Verträgen und sonstigen Regelungen sich kaum ändern wird. Die staatlichen Vertreter wissen sehr wohl, was sie an den Kirchen haben, allerdings in erster Linie im sozialen Bereich. Aus dem Bereich des geistlichen, des gottesdienstlichen Lebens muss sich der Staat ja prinzipiell heraus halten. Es geht den Staat nichts an. Es sei denn, dass möglicherweise durch die Religionsausübung elementare Rechte tangiert werden. Das ist aber, zumindest bei den christlichen Kirchen hier in Deutschland, nicht der Fall. Ich glaube, dass aktuell von beiden Seiten aus eine Verlässlichkeit da ist.

Fischer: Und wenn sie an die gesellschaftliche Dimension denken...

Bischof Hein: Das Verständnis der Kirche innerhalb unserer Gesellschaft wird sich ändern. Da werden wir zunehmend eine Nicht-Regierungsorganisation unter anderen werden. Dazu haben wir einiges selbst beigetragen, aber auch das sehe ich gar nicht als einen Verlust, sondern als eine Chance innerhalb einer pluralistisch verfassten freiheitlich demokratischen Gesellschaft, unser Anliegen deutlich zum Ausdruck zu bringen. Um ein Beispiel zu nennen: Der Religionsunterricht ist kein Privileg der Großkirchen. Es gibt die Möglichkeiten, dass auch andere Religionsgemeinschaften ihrerseits, bei der Voraussetzung entsprechender Schülerschaft, auch Religionsunterricht geben. Den Religionsunterricht aber ins Private abzudrängen, wäre geradezu fatal, denn Religion ist eine eminent öffentliche Angelegenheit. Das hat man etwas in Frankreich gesehen, wo ein laizistischer Staat überhaupt keine Antennen für die Frage des Glaubens hatte. Das Ergebnis ist, dass dort der islamisch begründete Terrorismus sehr viel stärker ist als bei uns, weil wir, auch im öffentlichen Schulsystem, die Frage der Religion thematisieren.

Fischer: Eine letzte Frage: Wir leben in einer durchaus christlich geprägten Gesellschaft. Das sieht man schon, wenn man durch die Dörfer fährt und sieht: Überall stehen die Kirche im Mittelpunkt. Wird diese christliche Prägung weiter fortbestehen?

Bischof Hein: Unsere christliche Prägung kann nur dann wirksam sein, wenn es Menschen gibt, die für ihren christlichen Glauben eintreten. Und je mehr das tun, umso mehr wird unsere Gesellschaft auch vom Gedankengut des Christentums geprägt bleiben. Je weniger das tun, umso mehr müssen wir uns damit abfinden, dass möglicherweise auch andere Vorstellungen Raum gewinnen. Ich will das verdeutlichen: Inzwischen haben wir eine Tendenz, zuallererst auf sich selbst zu schauen. Der Einzelne ist im Vordergrund und mit ihm die Frage: «Was nützt mir und was hilft mir». Da wünsche ich mir, dass viele Christen sich und anderen sagen: Es geht nicht nur um dich, es geht auch um unsere Gemeinschaft. Es geht immer auch um die Anderen, mit denen ich zusammenlebe. Den Gedanken der Solidarität gesellschaftlich einzubringen, das würde ich mir wünschen. Und wenn wir dann noch deutlich sagen: Wir leben nicht aus uns selbst, sondern wir leben aus dem Zuspruch des Evangeliums, dass Gott uns liebt» -  dann ist das auch für eine Gesellschaft insgesamt eine wunderbare Perspektive.

Fischer: Herr Bischof, vielen Dank für das Gespräch.

(27.11.2017)