Redaktion ekkw.de
Veröffentlicht 27 Jun 2023
Prälat Burghard zur Nieden (Foto: medio.tv/Schauderna)

Prälat Burghard zur Nieden (Foto: medio.tv/Schauderna)

Kassel. Sinkende Mitgliedszahlen, Nachwuchsmangel im Pfarramt und ein großer Reformprozess in der Landeskirche. All das sorgt für viel Unruhe und Verunsicherung, aber auch für Aufbruchsstimmung. Burkhard zur Nieden, Prälat der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, erklärt im Interview, wie es unserer Kirche geht, wie er die Zukunft einschätzt und warum Neugier so wichtig ist. Die Fragen stellte Olaf Dellit, Redakteur im Medienhaus der Landeskirche.

Es gibt ein Buch, das «Der evangelische Patient» heißt. Muss unsere Kirche ins Krankenhaus?

Zur Nieden: Ich glaube, dass sie immer mal wieder zu Vorsorgeuntersuchungen gehen muss und dass ihr Gesundheitszustand nicht der einer blühenden Person Mitte 20 ist. Was die allgemeine Konstitution angeht, ist sie im Alter schon ein Stück fortgeschritten. Neben der Vorsorge braucht es begleitende Behandlungen und Eingriffe.

Und wie sind die Heilungschancen?

Zur Nieden: Das Bild wird schief, wenn es um die Frage von Endlichkeit geht. Die Kirche als Glaubensgemeinschaft gibt es so lange, wie der Herr der Kirche möchte. Als Organisation Kirche aber sind wir angeschlagen.

Die Zahlen zur Kirchenentwicklung verheißen nichts Gutes. Was macht Ihnen am meisten Kopfzerbrechen?

Zur Nieden: Wir haben einige Jahre ziemlich raue See vor uns. Viele Pfarrerinnen und Pfarrer der Babyboomer-Generation gehen in den Ruhestand. Wir werden da einen eklatanten Mangel haben, gleichzeitig aber noch vergleichsweise viele Kirchenmitglieder. Erst später wird uns auch der Rückgang der Kirchenmitglieder treffen. Die Zahlen sind gegenwärtig unerfreulich.

Woran liegt das?

Zur Nieden: Es hat unterschiedliche Gründe: Säkularisierung und damit Verlust von Relevanz sowie die tiefe Scham und Verärgerung über unseren Umgang mit sexualisierter Gewalt in der Vergangenheit. 

Und was macht Ihnen Hoffnung?

Zur Nieden: Ich glaube, dass wir in den 2030ern wieder in ruhigere und stabile Fahrwasser kommen werden. Die Mitgliederentwicklung, die Finanzentwicklung und die Zahl der Pfarrerinnen und Pfarrer werden dann auf einem niedrigeren Niveau, aber stabil und im Gleichgewicht zueinander stehen. 

Dann wird es wieder ruhiger?

Zur Nieden: Ich flüchte mich da nicht in vage Formulierungen. Man kann vielmehr an den Zahlen gut zeigen, dass wir dann eine Art von neuer Stabilität erreichen werden. Für uns als Organisation und evangelische Landeskirche lässt sich das bewältigen. Wir kriegen das hin.

Ich höre jetzt schon von Menschen: Früher ist der Pfarrer noch mit dem Rad unterwegs gewesen, jetzt wohnt er drei Dörfer weiter. Geht die Nähe zu den Menschen verloren?

Zur Nieden: Meine Erfahrung ist: Wenn Pfarrerinnen und Pfarrer ein gutes Gespür für den Augenblick haben, dann kann eine minutenlange Begegnung die ganze Ewigkeit umfassen.
Auf diese Kompetenz setze ich. 
Ich habe da selbst eindrückliche Erfahrungen: Ich war äußerlich gesehen unter enormem Zeitdruck oder hatte eine ganz zufällige, scheinbar unpassende Begegnung. Aber wenn man sich dann dem Menschen zuwendet, ist das so kostbar und so wertvoll. Wir wollen Pfarrerinnen und Pfarrer sowie andere kirchliche Berufsgruppen und Ehrenamtliche in den Stand versetzen, dass es solche wertvollen Augenblicke weiter gibt. Und das wird auch gelingen. 

Es wird aber doch anders als bisher?

Zur Nieden: Das Pfarramt in der Nachbarschaft wird weniger. Aber das Füreinander-da-Sein, der Aufbau und die Pflege von Beziehungen, das wird weiter gelingen.

Nicht nur die Zahl der Pfarrstellen schrumpft, es gibt auch zu wenig Nachwuchs. Warum will keiner mehr ins Pfarramt?

Zur Nieden: Ganz nüchtern gesehen ist die Zahl der evangelischen jungen Erwachsenen an einem Jahrgang drastisch zurückgegangen, gegenüber den Babyboomern ist sie anteilig an einem Jahrgang nur noch halb so groß. Und von denen ist immer noch ein bestimmter Anteil bereit, Theologie zu studieren. Dafür bin ich sehr dankbar. Anstatt uns auf den Rückgang der Quantität zu fokussieren, setzen wir auf Qualität. Es sind zwar viel weniger, aber es sind richtig gute Leute.

Solche Schrumpfungsprozesse machen vielen Menschen Sorge, besonders denen, die sich haupt- und ehrenamtlich für die Kirche engagieren. Was sagen Sie ihnen?

Zur Nieden: Wir haben mit dem enormen Umbau schon angefangen, und die Geschwindigkeit wird sich nicht noch mal wesentlich steigern. Ich persönlich habe es etwas leichter, weil ich selber Akteur bin und Selbstwirksamkeit erlebe.
Aber ich verstehe, dass es anderen deutlich schwerer fällt, die sich als Objekt der Veränderung erleben. Da sage ich auch nicht: Warum stellt ihr euch denn so an? 
Ich möchte aber auch sagen: Entdeckt doch die Freude daran, etwas zu schaffen und Neuland zu entdecken. Jede Zeit hat ihre eigenen Herausforderungen, aber jede Zeit steht auch unter dem Segen Gottes. Wir sind in eine Situation gestellt und haben die Muster für das, was zu tun ist, noch nicht. Wir treten jetzt raus in eine Dämmerung, von der manche sagen: Das ist die Abenddämmerung. Und manche sagen: Das ist die Morgendämmerung. Das wird man dann sehen.

Wenn die Kirche kleiner wird, wird auch ihre Stimme in der Gesellschaft leiser. Was können wir dagegen tun?

Zur Nieden: Ob die Stimme leiser wird, liegt ja an uns. Trotzdem kann es sein, dass wir weniger gehört werden. Da merkt man auch, dass wir oft nicht wegen der Qualität unserer Argumente gehört wurden, sondern weil wir eine große Bevölkerungsgruppe darstellen.
Politikerinnen und Politiker sind da ganz nüchtern. Die gucken im Grunde danach, wie viel Wählerstimmen wir repräsentieren. Und wenn wir weniger werden, repräsentieren wir weniger politische Macht. Das bedeutet für uns: Wir müssen noch mehr als bisher auf die Güte der Argumente setzen.

Und da sind wir gut?

Zur Nieden: Da haben wir eine echte Chance, denn an der Qualität der politischen Debatten in unserem Land kann man gegenwärtig wirklich Zweifel haben. Das positive Echo auf den Kirchentag in Nürnberg lag auch darin begründet, dass dort exemplarisch gezeigt wurde, wie man gesittet miteinander sehr unterschiedlicher Auffassung sein kann und einander trotzdem verbunden bleibt. Da können wir einen echten Dienst an der Gesellschaft leisten.

Wie kann es gelingen, trotz dieser schwierigen Entwicklungen motiviert und fröhlich zu bleiben? 

Zur Nieden: Ich glaube, dass Neugier eine gute Gabe Gottes ist. Neugier hat etwas mit der Furchtlosigkeit und mit der Sorglosigkeit zu tun hat, die Christus in der Bergpredigt empfiehlt. Also einfach mal schauen, was die Nachbarn machen. Dann wachsen Projekte, dann wachsen Perspektiven, dann entstehen auch Routinen und Muster, wie man sich unter reduzierten Verhältnissen auf spannende Wege begeben kann. 

Zahlen lügen nicht, sagt man, und alles klingt so unausweichlich. Müssen gerade wir aber nicht auf ein Wunder, auf eine Trendwende, hoffen?

Zur Nieden: Wir handeln so, dass wir auch auf eine Trendwende vorbereitet sind. Aber damit rechnen kann man nicht. Rechnen können wir in den Kategorien und mit den Dynamiken, die uns bekannt sind. Und da ist es so, dass wir im Rückgang sind.
Aber ich hoffe natürlich darauf, dass die Menschen, die vergessen haben, dass sie Gott vergessen haben, ein Gespür für den Gottesbezug und für die Bedeutung des Evangeliums bekommen.

(27.06.2023)

Linktipp:

Weitere Informationen zu Burghard zur Nieden und seinen Aufgaben als Prälat sind zu finden im Internetauftritt des Landeskirchenamtes:

Reformprozess:

Viele weitere Informationen zum laufenden Reformprozess in der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck finden sich unter www.ekkw.de/reformprozess