Stephan Thome ist mit einer Taiwanerin verheiratet und lebt seit vielen Jahren in der Hauptstadt Taipeh, die unser Foto zeigt. (Fotos: Portrait/privat, Taipeh/Unsplash))

Stephan Thome ist mit einer Taiwanerin verheiratet und lebt seit vielen Jahren in der Hauptstadt Taipeh, die unser Foto zeigt. (Fotos: Portrait/privat, Taipeh/Unsplash))

Redaktion ekkw.de
Veröffentlicht 23 Feb 2023

Der Schrifsteller Stephan Thome («Grenzgang») im Interview über die Schönheit und Gefahren für seine Wahlheimat Taiwan, Partnerland des Weltgebetstags. Die Fragen stellte Olaf Dellit, Redakteur im Medienhaus der EKKW.

Wenn wir in Deutschland Nachrichten aus Taiwan hören, geht es meistens um einen 
möglichen Krieg mit China. Das ist natürlich nur ein Ausschnitt aus der taiwanischen Realität. Wie würden Sie das Land charakterisieren, in dem sie seit 13 Jahren leben?

Stephan Thome: Es ist ein freundliches, kulturell reiches und – dafür dass es ja klein ist – sehr gemischtes Land mit verschiedenen Volksgruppen, Sprachen und kulturellen Einflüssen. Es gibt eine Kolonialgeschichte bis ins 20. Jahrhundert hinein: Die Holländer waren hier, die Spanier und die Japaner. Deswegen ist Taiwan ein zentraler Ort, auch wenn es geografisch an der Peripherie von Ostasien liegt. Es gibt viele Verbindungen in andere Länder der Region – das spiegelt sich in der taiwanischen Gesellschaft wider und macht sie vielfältig und interessant. 

Was sollte man in Europa unbedingt über Taiwan wissen?

Thome: Das Wichtigste hat sich inzwischen durchgesprochen, nämlich dass Taiwan nicht einfach China ist, sondern von China beansprucht wird, aber auf seiner Eigenständigkeit besteht. Es bezweifelt hier jedoch niemand, dass es eine starke kulturelle Verbindung zu China gibt. Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung hat dort irgendwelche Wurzeln. Zweitens ist Taiwan eine noch junge, lebendige Demokratie. Diese demokratische Verfasstheit ist noch keine Selbstverständlichkeit und den Menschen viel wert, das sieht man zum Beispiel an der Wahlbeteiligung, die viel höher als in Deutschland ist. Drittens spukt bei manchen immer noch dieses Label «Made in Taiwan» herum, und die Leute denken an Sandalen oder so etwas. Tatsächlich ist es ein Hochtechnologie-Land, das Deutschland in Sachen Digitalisierung um einiges voraus ist.
Taiwan wird meistens als «die kleine Insel» apostrophiert. Es ist so groß wie Baden-Württemberg. Auf der anderen Seite hat es viele Einwohner: Wäre es ein EU-Mitglied, wäre es nach der Einwohnerzahl die Nummer 6, also nicht wirklich ein Zwerg. 

Ist es eher ein Vorteil oder ein Nachteil, dass die Demokratie noch jung ist?

Thome: Der größere Teil der Bevölkerung erinnert sich noch, wie es in der Zeit vor der Demokratie war. Und die allermeisten Leute würden zustimmen, dass es jetzt besser ist. Von Politikverdrossenheit oder Demokratiemüdigkeit, von der in Deutschland manchmal gesprochen wird, spüre ich hier nichts. Auf der anderen Seite gibt es auch so etwas wie Kinderkrankheiten der Demokratie, wenn sich zum Beispiel Abgeordnete prügeln oder der Ton etwas rauer ist. Insgesamt ist es aber eher ein Vorteil für das Land. 

Welche Rolle spielen Religionen auf Taiwan?

Thome: Im Alltag spielen sie eine große Rolle. Wenn man durch die Straßen geht, sieht man sehr viele Tempel, Zeremonien und Feste mit religiösem Hintergrund. Wenn wir aus deutscher Sicht schauen, sind wir von einem bestimmten Religionsverständnis geprägt. Wir denken an monotheistische Religionen, vor allem an das Christentum, an die Kirchen und ihre lange, kulturprägende Tradition. Ostasiatische Religionen sind nicht monotheistisch; sie erheben keinen Exklusivitätsanspruch und vertragen sich deshalb gut miteinander. Wenn man Menschen nach ihrer Religion fragt, nennen sie oft zwei oder drei, zum Beispiel den Buddhismus und den Daoismus – das widerspricht sich nicht. 
Diesseits und Jenseits sind keine strikt getrennten Bereiche. Es gibt viele historische Persönlichkeiten, Generäle und Gelehrte, die als Götter in den Tempeln verehrt werden. Religion ist ein wichtiges Merkmal der taiwanischen Identität. Das ist auch ein Unterschied zum chinesischen Festland, wo religiöse Traditionen in der Kulturrevolution verfolgt und teilweise ausgerottet wurden. 

Am Weltgebetstag wird der Blick auf Christen in Taiwan gerichtet. Sie sind eine relativ kleine Minderheit – Schätzungen sprechen von vier bis fünf Prozent. Sind Sie in der Öffentlichkeit wahrnehmbar? 

Thome: Man muss zunächst sagen, dass es zwei Haupt-Denominationen mit starken politischen Unterschieden gibt. Chiang Kai-shek, der starke Mann und Diktator, war selbst Christ und hat angeblich täglich in der Bibel gelesen. Er gehörte zur methodistischen Kirche, deshalb war diese auch staatstragend und systemerhaltend in der Zeit, als Taiwan noch keine Demokratie war. Das kann man sehr kritisch sehen und ob Chiang Kai-shek das mit der Nächstenliebe so richtig verstanden hat, kann man bezweifeln.
Daneben gibt es die Presbyterianer, gegründet von angelsächsischen und amerikanischen Missionaren, die sich vor allem auf die Ureinwohner und die taiwanischstämmige Bevölkerung konzentriert haben. Noch heute sind über 80 Prozent der Ureinwohner Christen. In der Gegend an der Ostküste sieht man auch überall diese winzig kleinen, süßen Kirchen. 
Die Methodisten sind heute stark von den USA beeinflusst. Ich mag sie überhaupt nicht. Sie haben stark evangelikale Tendenzen und sind wahnsinnig konservativ. Man hat sie sehr laut gehört, als Taiwan als erstes asiatisches Land die Homo-Ehe erlaubt hat. Da sind sie auf die Barrikaden gegangen mit all dem Schwachsinn, den man auch aus den USA kennt; dass alle Kinder jetzt zur Homosexualität erzogen würden und so weiter. Es ist eine kleine, manchmal laute Minderheit. 

Zur Person: Stephan Thome

Stephan Thome (50) stammt aus Biedenkopf bei Marburg. Er hat Philosophie, Religionswissenschaft und Sinologie in Berlin studiert und später über konfuzianische Philosophie in Taipeh geforscht. Sein erster Roman (2009) «Grenzgang» erhielt sehr viel Kritikerlob, kam in die engere Auswahl für den deutschen Buchpreis und wurde später verfilmt. Es folgten die ähnlich erfolgreichen Romane «Fliehkräfte» und «Gegenspiel». In «Gott der Barbaren» widmete sich Thome einem im Westen wenig bekannten Kapitel der chinesischen Geschichte: dem Terror einer fundamentalistisch-christlichen Bewegung im China des 19. Jahrhunderts.

Stephan Thome ist mit einer Taiwanerin verheiratet und lebt seit vielen Jahren in der Hauptstadt Taipeh.

Ich vermute, es wird vielen Menschen in Deutschland ähnlich gehen, wie mir: Über ostasiatische Geschichte weiß ich ganz wenig. Sehen Sie als Schriftsteller auch eine Aufgabe darin, solche Wissenslücken zu füllen? 

Thome: Als Romanerzähler sehe ich meine Aufgabe nicht pädagogisch. Das schließt nicht aus, dass ein Buch wie «Pflaumenregen» Leute auch informieren und einen Eindruck vermitteln kann. Das ist aber nicht das Hauptanliegen. Aber ich gebe ja auch Interviews und schreibe für Medien. Und ein Buch wie «Gebrauchsanweisung für Taiwan» hat natürlich den
Zweck, zu informieren. 
In Deutschland fehlt es an China-spezifischer und Ostasien-spezifischer Kompetenz. Es gibt nur eine ganz geringe Immigration aus diesen Ländern, ganz im Gegensatz etwa zu den USA. Dort gibt es ganz viele chinesischstämmige Professoren an den Universitäten. Das fehlt uns und man merkt es an der Qualität des Diskurses und der Berichterstattung. Medien müssen eigentlich immer bei Null anfangen, weil sie kaum Kenntnisse voraussetzen können. 
Das ist ein Problem, weil China so ein mächtiges Land ist und die Welt so nachhaltig prägt. Man sollte schon etwas darüber wissen, warum die Chinesen so sind, wie sie sind und so agieren, wie sie es tun. 
Und für so ein kleines Land wie Taiwan wünsche ich mir das natürlich auch. Obwohl mir natürlich klar ist: Ich persönlich weiß über Peru oder Angola ja auch nichts. Andererseits ist der Konflikt zwischen China und Taiwan von weltpolitischer Bedeutung, da sollten wir etwas Nachhilfe nehmen. Das ist der Grund, warum ich jetzt gerade an einem Sachbuch schreibe, um den chinesisch-taiwanischen Konflikt hoffentlich allgemeinverständlich darzustellen. 

Das Buch «Pflaumenregen» sollte auch in Mandarin übersetzt werden. Ist das schon geschehen?

Thome: Hier in Taiwan sind alle meine Romane erschienen, «Gott der Barbaren» gerade vor ein paar Wochen. Und für «Pflaumenregen» habe ich vor ein paar Tagen die Übersetzerin durch ein paar Schauplätze des Romans geführt. Das wird in etwa zwei Jahren erscheinen, aber angesichts des Inhalts nicht in China, das ist klar.

Ist die eigene Geschichte in Taiwan sehr präsent?

Thome: Diktaturen haben immer eine bestimmte Lesart von Geschichte, die sie zur Orthodoxie erklären; manchmal ist sie nahe dran an der Realität, manchmal weit entfernt von ihr. In Taiwan hat man den Menschen jahrzehntelang eingetrichtert, dass sie Chinesen sind und auch nie etwas anderes waren. Noch meine Frau hat in der Schule über taiwanische Geografie und Geschichte nichts gelernt, sondern nur über chinesische. Sie hat gelernt, wie sie mit dem Zug irgendwo auf dem chinesischen Festland von A nach B kommt, wo sie bis heute nicht gewesen ist. 
Man hat die Leute ganz bewusst und nachhaltig sinisiert und zu Chinesen erzogen. Jetzt ist dieser eiserne Griff weg und die Leute können ihre Geschichten frei erzählen. Die taiwanische Identität ist ein «ongoing project», sie sind auf der Suche. Das ist noch nicht ausformuliert. Deswegen beschäftigen sich viele Menschen mit der eigenen Geschichte, es gibt viele Filme, Fernsehserien und Romane, die auf diese Frage rekurrieren: Wer sind wir eigentlich?

Vorgestellt: «Pflaumenregen»

In seinem jüngsten Roman «Pflaumenregen» erzählt Stephan Thome eine taiwanische Familiengeschichte auf zwei Zeitebenen zwischen den 1940er-Jahren, als die japanische Kolonialzeit endete, und der Gegenwart. Das Buch ist nicht nur unterhaltsam, man erfährt auch viel über das Land und seine Geschichte. Der Roman erhielt viele sehr lobende Kritiken, so wie die von Katharina Borchardt im SWR: «Stephan Thome lesen macht Spaß und es macht schlau.» Stephan Thome: Pflaumenregen, Suhrkamp 2021, 25 Euro (Taschenbuch: 14 Euro)

Lesung in Frankenberg

Stephan Thome liest im Rahmen des Literarischen Frühlings am Samstag, 25. März, ab 19 Uhr im Landgut Walkemühle in Frankenberg. Moderiert werden die Lesung und der Empfang von Denis Scheck («Druckfrisch»). Stephan Thome ist seit diesem Jahr Schirmherr des Literarischen Frühlings und in dieser Aufgabe Nachfolger von Friedrich Christian Delius, der 2022 verstorben ist.

Internetseite

Ich möchte doch noch auf die Kriegsgefahr zurückkommen. Wie bewerten Sie die Lage derzeit? 

Thome: Unter Xi Jinping wird die Gefahr für Taiwan allmählich größer. China wird mächtiger, China macht Druck, China wird ungeduldiger. Ich glaube aber nicht, dass die Kriegsgefahr akut ist. In der Berichterstattung verwischt das manchmal. China arbeitet ganz klar darauf hin, in der Lage zu sein, die Taiwan-Frage militärisch zu lösen. Das heißt aber nicht, dass sie bereits beschlossen haben, dass sie auch militärisch gelöst werden muss. Sie setzten weiterhin darauf, dass sie sie «friedlich» lösen können. Sie glauben, dass sie ein großes Arsenal an Mitteln diesseits eines Militärschlags und der Invasion Taiwans haben, und es damit schaffen werden, Taiwan in die Knie zu zwingen. Der große Krieg wird allenfalls eintreten, wenn zuvor andere Schritte passiert sind, die bisher aber noch nicht gegangen wurden. 

Es heißt, dass China auch sehr genau geschaut hat, wie die Weltgemeinschaft auf den Ukraine-Krieg reagiert. Ist das Thema in Taiwan?

Thome: Der russische Überfall auf die Ukraine war ein Schock und hat die Leute hier wachgerüttelt. Einige haben sich sofort zu zivilen Verteidigungskursen gemeldet, wo man lernt, was auf die Bevölkerung im Kriegsfall zukäme, zum Beispiel die Versorgung von Schusswunden. Der Spruch «Ukraine today, Taiwan tomorrow» ging durch die Medien, man hat also sofort die Parallelen gesehen: ein kleines Land mit einem großen, autoritären Nachbarn, das die Unabhängigkeit des kleinen Landes nicht anerkennt. Jetzt beruhigt es sich wieder etwas, Taiwan pendelt zwischen totaler Gelassenheit und kurzzeitig aufblitzender Hysterie. Mir fehlt da oft die realistische Einschätzung, dass die Gefahr zwar nicht akut ist, aber langsam steigt, weil China auf eine Lösung drängt. 

Welche politische Unterstützung braucht Taiwan?

Thome: Taiwan braucht jede Hilfe, die es kriegen kann. Militärisch betrifft das vor allem die USA. Ohne amerikanischen Schutz und ohne amerikanisches Eingreifen im Ernstfall könnte Taiwan sich nicht lange selbst verteidigen. Politisch braucht es Unterstützung aus der ganzen Welt. Das ist immer ein zweischneidiges Schwert, weil diese Unterstützung vor allem Symbolpolitik ist. Besuche von hochrangigen Politikern, wie etwa von der Sprecherin des Repräsentantenhauses Nancy Pelosi, sind starke Zeichen und den Menschen hier willkommen, sie sind aber eben auch eine starke Provokation. Dann macht Peking Dinge, unter denen Taiwan zu leiden hat. Es ist eine schmale Linie. 
Als Faustregel könnte man sagen: Möglichst viel Substanz und möglichst wenig Symbol. Das heißt, hinter verschlossenen Türen der Führung in Peking Dinge sagen, die man öffentlich nicht sagen würde und auf jeden Fall deutlich machen, dass ein Überfall auf Taiwan ein No-Go wäre und China zum Paria der Weltgemeinschaft machen würde. Aber natürlich kommt man ohne das Symbolische nicht aus, Politik ist immer auch öffentliche Inszenierung. Unterstützung, die gar nicht sichtbar ist, ist in der Wahrnehmung der meisten Menschen keine. 

Zum Schluss dürfen Sie noch einmal Werbung für Ihre Wahlheimat machen. Warum sollte man unbedingt mal nach Taiwan reisen? 

Thome: Es ist eine Insel im Pazifik, deren nördliche Hälfte in den Subtropen und deren südliche Hälfte in den Tropen liegt. Wenn man keinen Winter mag, kann man hierherkommen. Das Essen ist absolut einzigartig und großartig. Ich bin nicht der Einzige, der sagt, dass es hier die beste Küche der Welt gibt. Das liegt daran, dass man hier alle chinesischen Regionalküchen hat. Auch die Japaner haben aufgrund der Kolonialzeit kulinarische Spuren hinterlassen. 
Die Menschen sind sehr gastfreundlich. Viele Leute denken an Palmen, wenn sie von Tropen und Subtropen hören. Die gibt es, aber auch das Zentralmassiv mit über 200 Gipfeln von über 3.000 Metern Höhe – wer Bergwandern mag oder sich solche Topografien mit dem Fahrrad zumuten will, findet ein ideales Terrain.   
Man hat auf engem Raum viel Kultur, drei Klimazonen, verschiedene Landschaften und man muss nie Hunger leiden.

Vielen Dank für das Gespräch. 

(01.03.2023)