Redaktion ekkw.de
Veröffentlicht 13 Nov 2012

Das Interview führten medio!-Redaktionsleiter Christian Fischer und medio!-Reporter Torsten Scheuermann in Kassel.

medio: Herr Oberbürgermeister, stellen Sie sich vor, Sankt Martin würde in diesen Tagen in Kassel Station machen und auf seinem Pferd in die Stadt reiten. Wohin würde er sein Pferd lenken?

Hilgen: Ich glaube, Sankt Martin würde sich heute sicherlich um die Kinder kümmern. Er würde vielleicht auch den einen oder anderen Rentnerhaushalt aufsuchen und er würde sich um die Menschen kümmern, die Tag und Nacht, mit Ausnahme von wenigen Winterwochen, auf der Straße leben. Er hätte also auch in unserer Stadt viel zu tun, obwohl sie sich in den letzten Jahren sehr positiv verändert hat. Wir haben die Arbeitslosigkeit halbiert. 2005 waren wir noch bei 19 %, wir sind jetzt bei neun. Und auch die Wirtschaftskraft hat sich sehr gut entwickelt. Trotzdem gibt es Menschen, die sind auf Hilfe und Solidarität angewiesen.

medio: Und welchen Stadtteil würde er ansteuern?

Hilgen: Ich mache alle zwei Jahre Hausbesuche in der Stadt, um mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Mir begegnen dabei Wohlstand und Armut in allen Stadtteilen. In manchen ein bisschen mehr, in manchen ein bisschen weniger. Aber Sankt Martin würde sicher auch in Bad Wilhelmshöhe Menschen treffen, die seine Hilfe gerne in Anspruch nehmen würden.

medio: Sankt Martin ist uns als Mensch überliefert, der das Teilen in den Mittelpunkt gestellt hat. Welche Rolle spielt das Teilen für Sie in der Stadtgesellschaft?

Hilgen: Wir haben in Kassel viele Organisationen, die sich um hilfsbedürftige Menschen kümmern und mit ihrem Engagement zum Zusammenhalt in der Stadtgesellschaft beitragen. Dafür bin ich sehr dankbar. Und auch die Stadt selber gibt einen beträchtlichen Teil ihres Budgets für soziale Transferleistungen im Bereich Jugendhilfe und im Bereich Sozialhilfe aus. Das sind pro Kopf der Kasseler Bevölkerung jedes Jahr 1.200 Euro. Etwa ein Drittel ihres gesamten Budgets setzt die Stadt Kassel für diesen Zweck ein.

medio: Da geschieht also schon eine ganze Menge. Trotzdem die Frage: Wo wird in Kassel zu wenig geteilt? Wo müsste unbedingt mehr geteilt werden?

Hilgen: Die Kommunen brauchen deutlich mehr Mittel, um gerade den Kindern die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen, ihren Horizont ein Stückchen zu weiten, die Stadt kennen zu lernen. Also, Voraussetzungen dafür zu schaffen, damit die Kinder ein selbstbewusstes, selbstbestimmtes Leben mit einer guten Ausbildung hinbekommen. Wir könnten noch viel mehr tun, wenn wir die Ressourcen hätten beispielsweise für Ganztagsschulprogramme, Betreuung im Bereich U3, Kindertagesstätten und für Sprachförderung, die wir im Zusammenhang mit unserem großen Programm zur Bewältigung des demografischen Wandels jetzt begonnen haben.

medio: Werfen wir einen Blick auf das Verhalten der Menschen untereinander. Wenn Menschen nicht mehr teilen, sich auch nicht mehr mitteilen, entstehen geschlossene Gesellschaften. Wo erkennen Sie solche Entwicklungen in Kassel?

Hilgen: Es gibt sicherlich Entwicklungen, dass man den eigenen Stadtteil sehr viel besser kennt und nicht mehr regelmäßig in andere Stadtteile geht. Das gilt im Verhältnis der Nordstadt mit Bad Wilhelmshöhe genauso wie umgekehrt, um einmal zwei Stadtteile beispielhaft zu nennen. Es gibt also auch in Bad Wilhelmshöhe oder am Brasselsberg so eine Art von Kiez, der die Menschen in ihrem Stadtteil hält, weil man dort alles vorfindet, was man braucht. Umgekehrt leben viele Menschen, die in der Nordstadt an unserer Universität arbeiten, in der ganzen Stadt verstreut und es gibt sicherlich auch viele, die aus der Nordstadt kommend im Westen der Stadt arbeiten.

medio: Kennen die Kasseler noch ihre Stadt oder nur noch ihren Stadtteil?

Hilgen: Manchmal berichten mir meine Mitarbeiter aus dem Kulturamt, dass es zehnjährige Kinder gibt, die zum ersten Mal den Bergpark Wilhelmshöhe gesehen haben. Sie wähnten sich in einer anderen Welt und nicht in ihrer Heimatstadt Kassel. Hier müssen wir mit vielen kleinen vernünftigen Lösungen ansetzen, etwa mit unseren Ferienspielen in den Stadtteilen oder dem Angebot unseres Kulturamts, Kindern die kulturellen Schätze Kassels zu zeigen. Der Vorteil einer Stadt von knapp 200.000 Einwohnern besteht ja gerade darin, sie Stück für Stück kennenzulernen, ohne allzu große Entfernungen überwinden zu müssen. Man muss es nur tun.

medio: Welche Ecken sind selbst Ihnen denn noch unbekannt?

Hilgen: Die Kasseler Wandervereine führen in jedem Jahr von unterschiedlichen Startpunkten aus jeweils eine Gruppe zu einem gemeinsamen Ziel in der Stadt. Durch diese «63 Prozent Wanderung» (Der Begriff bezieht sich auf den hohen Anteil von Grünflächen in Kassel) kommt auch der Oberbürgermeister an Orte, die er noch nie gesehen hat.

medio: Sie sagen selbst, es gibt diese begrenzten Räume. Wie sieht Ihre Vision für die Stadt aus? Wünschen Sie sich mehr Bewegung aufeinander zu, mehr Interaktionen, die oft auch Konflikte mit sich bringen?

Hilgen: In meiner Wahrnehmung wird die Individualisierung der Gesellschaft stärker. Das heißt, die Einbindung in eine Gemeinschaft hat einen geringeren Stellenwert – das gilt für Vereine, die Kirchen oder die Parteien. Man kann vieles ohne die Organisation tun, was man vor 20 Jahren nur in ihr tun konnte. Das Angebot, das ein Sportverein bietet, kann ich mir heute auch einkaufen, in dem ich in ein Fitnessstudio gehe. Informationen, die früher von den Bundestagsabgeordneten in der Parteiversammlung eins zu eins spannend vermittelt wurden, bekommt man heute übers Internet. Wichtig ist, glaube ich, dass man über Interaktion, auch mit unterschiedlicher Meinung, die Stadtgesellschaft zusammen hält.

medio: Wie kann das gelingen?

Hilgen: Man muss das Ehrenamt stärken und Organisationen und Institutionen stützen, die solche Diskurse organisieren. Wie etwa beim Rat der Religionen, wo Vertreterinnen und Vertreter der religiösen Gemeinschaften zusammenkommen, um darüber zu diskutieren, wie wir miteinander leben wollen und welchen Beitrag die Religionen zu einem friedlichen solidarischen Miteinander leisten können. Es gibt aber keinen Königsweg, der alles löst.

medio: Können Sie ein weiteres Beispiel nennen?

Hilgen: Es geht zum Beispiel um die Frage, welche Politik betreiben die Sportvereine beim Thema Integration. Gehen sie auf die ausländischen Jugendlichen oder die Jugendlichen mit ausländischen Wurzeln zu und integrieren sie? Beim Fußballspielen etwa kommt es nicht drauf an, welchen Pass jemand hat, sondern ob er das Runde in das Eckige kriegt. Das ist das Kriterium. Solche Zusammenarbeit kann durchaus konfliktbehaftet sein, dass ist wie in einer Familie. Man darf nicht nebeneinander leben, man muss miteinander leben, auch wenn es unterschiedliche Meinungen gibt, die man aushalten muss.

medio: Welche Rolle spielt die Kommune?

Hilgen: Es gibt viele unterschiedliche kleinere Ansätze, um Menschen zusammen zu bringen. Kommunen können den Dialog deshalb so gut organisieren, weil sie am besten wissen, was in ihrer Stadt los ist und wo es Probleme gibt. Ich bin allerdings davon überzeugt, dass der Zustand einer Stadt viel mehr davon abhängig ist, wie die Menschen zu ihr stehen, als von der offiziellen Rathauspolitik. Wenn die Menschen ihre Stadt als die ihrige begreifen, für die sie ein Stück Verantwortung haben, dann ist diese Stadt viel besser aufgehoben, als wenn die Menschen quasi auf der Tribüne sitzen und zuschauen, wie wir Politikerinnen und Politiker auf dem Feld spielen. Wichtig ist, dass die Menschen teilhaben und sich auch ein Stück verantwortlich fühlen für ihre Stadt. Und wenn beides zusammen kommt, dann, glaube ich, schaffen wir es, vorhandene Zentrifugalkräfte zu bändigen.

medio: Zurück zum Thema «Teilen». Manchmal funktioniert das mit dem freiwilligen Teilen nur begrenzt und die Politik muss nachhelfen. Wo sehen Sie hier als Oberbürgermeister Handlungsbedarf?

Hilgen: Das ist aus meiner Sicht ein Thema der Steuerpolitik. Ich bin davon überzeugt, dass man die Menschen, die mehr besitzen, zur Finanzierung der öffentlichen Aufgaben stärker in Anspruch nehmen muss. Wir haben, Gott sei Dank, jetzt Generationen, die gelebt haben, ohne dass ein Krieg ihr Vermögen vernichtet hat. Deswegen werden in den nächsten Jahren große Vermögen leistungslos vererbt werden. Ich glaube, über die Erbschaftssteuer müsste der Staat ein Stückchen mehr für die öffentliche Finanzierung bekommen. Und ich denke auch, dass hohe und höchste Einkommen noch eine stärkere Belastung vertragen, ohne dass die Menschen ihren Anreiz für Leistung verlieren. Im Übrigen hängt die Lebensqualität ab einem bestimmten Maß weniger davon ab, wie viel man mehr hat, sondern von der Frage, wie es um einen herum aussieht. Und wenn die Egalität in der Gesellschaft stärker wäre, als sie im Moment in der Bundesrepublik ist, würde dies eher zu einer Steigerung der Lebensqualität als zu deren Abnahme führen.

medio: Noch eine persönliche Frage zum Schluss: Mit dem Teilen macht jeder seine ganz persönlichen Erfahrungen. Wie ist das bei Ihnen? Wo haben Sie bereits persönlich geteilt und wie haben Sie das empfunden?

Hilgen: Für einen Oberbürgermeister ist freie Zeit etwas ganz kostbares. Und ein gutes Stück von diesem kleinen kostbaren Teil meines Lebens, meiner freien Zeit, die verbringe ich jetzt mit meiner 92-jährigen Mutter, die ich dieses Jahr nach Kassel geholt habe, um mich ein bisschen mehr um sie zu kümmern. Sie lebt jetzt in einem Altenheim bei mir zu Hause um die Ecke und ich versuche, wenn es irgend geht, jeden Tag einmal bei ihr vorbeizuschauen, mich ein bisschen mit ihr zu unterhalten. Es ist schön zu sehen, wie die alte Dame, die in ihrem Leben alles für ihre Kinder getan hat, sich über den Besuch ihres Jungen freut. Zuneigung ist ja etwas, was sich vermehrt, wenn man es teilt.

medio: Herr Hilgen, vielen Dank für das Gespräch.

(29.10.2012)