(Foto: medio.tv/Schauderna)

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Redaktion ekkw.de
Veröffentlicht 09 Mär 2022

«Missbrauch gab es auch in unserer Kirche», sagte Bischöfin Beate Hofmann in einem Interview, das am 24.02.2022 in der HNA veröffentlicht wurde. Das Interview führte HNA-Redakteurin Katja Rudolph.

Lesen Sie hier das Interview im Wortlaut:

HNA: Der Umgang der Katholischen Kirche mit Fällen sexueller Gewalt empört erneut viele Menschen. Das Thema ist jedoch kein rein katholisches. Wir sprachen darüber mit der Evangelischen Landesbischöfin Beate Hofmann.
Wie stark wird die Evangelische Kirche bei den Missbrauchsskandalen in Sippenhaft genommen?

Bischöfin: Es gibt Menschen, die wegen des katholischen Kardinals Woelki aus der evangelischen Kirche ausgetreten sind. Und es gibt welche, die generell das Vertrauen in die Kirchen verloren haben. Mit dem ausgestreckten Fingerauch auf die Evangelische Kirche zu zeigen, geschieht durchaus zurecht: Missbrauch gab es auch in unserer Kirche – wenn auch die Bedingungen, die Täterstruktur und die täterschützenden Strukturen anders waren und sind. Aber auch wir haben zu lange weggeguckt. Insofern ist die Sippenhaft teils sehr schmerzlich, aber teils auch sehr nachvollziehbar.

HNA: Sie haben zuletzt betont, dass die Aufarbeitung «ehrlich im Blick auf das eigene Versagen, transparent und öffentlich» stattfinden müsse. Was tut die kurhessische Landeskirche in dieser Hinsicht?

Bischöfin: Missbrauch verwundet Betroffene an Leib und Seele. Mir ist wichtig, deutlich zu machen, dass wir wirklich wissen wollen, was in unserer Kirche geschehen ist. Damit wir daraus lernen, so gut es geht mit dem geschehenen Unrecht umzugehen und so gut es geht zu verhindern, dass es wieder passiert. Bei der Aufarbeitung verfolgen wir mehrere Stränge gleichzeitig. Zum einen gibt es seit Ende 2019 die unabhängige Unterstützungskommission, die künftig Anerkennungskommission heißen wird, weil das der bundesweit gebräuchliche Begriff ist. Die drei Mitglieder der Kommission sind von der Kirche unabhängig und begleiten Menschen, die sich als Betroffene melden. Sie überlegen mit ihnen, was sie sich wünschen, was sie brauchen und ob ihr Fall noch rechtlich verfolgt werden kann.

HNA: Wobei die Öffentlichkeit im Einzelfall kaum herzustellen ist ...

Bischöfin: Das ist in der Tat ein Grunddilemma bei der Aufarbeitung. Die meisten Betroffenen möchten nicht an die Öffentlichkeit gehen, was gut nachvollziehbar ist. Hinzu kommt der hohe Schutz der Persönlichkeitsrechte von Verdächtigen. So zeigt sich auch in einem aktuellen Forschungsprojekt, dass es schwierig ist, Altfälle aufzuarbeiten, weil nicht bestätigte Vorwürfe in den Personalakten nicht dokumentiert werden dürfen. Daher finden sich in der Regel keine Hinweise auf Verdachtsfälle.

HNA: Die EKKW hat nun auch zwei Juristen als unabhängige Gutachter zur Aufarbeitung an Bord geholt. Was ist deren Aufgabe?

Bischöfin: Die ehemalige Kasseler Staatsanwältin Andrea Boesken und Jürgen Schuppner aus Eschwege, früherer Vizepräsident des Landgerichts Mühlhausen, sind damit beauftragt, alle bekannten Altfälle rechtlich zu prüfen. Dabei schauen sie sich auch die Straf und Disziplinarverfahren an. Ist es rechtmäßig zugegangen? Gab es Umstände, die die Aufklärung erschwert haben? Gab es täterschützende Strukturen? Im Gegensatz zur individuellen Aufarbeitung im Interesse des Betroffenen geht es hier um eine systematische Aufarbeitung, um mögliche strukturelle Defizite aufzudecken.

HNA: Die Gutachter sind zwar nicht Kirchenbeamte, aber ihr Auftrag geht von der Kirche aus. Wäre nicht eine vollkommen unabhängige Aufarbeitung nötig?

Bischöfin: Die wird es ebenfalls geben. Angestoßen vom Unabhängigen Beauftragtendes Bundes für Fragen sexuellen Kindesmissbrauchs werden regionale Aufarbeitungskommissionen eingesetzt. Deren Einrichtung zieht sich leider hin. Wir unterstützen das Vorhaben voll und ganz. Wenn man Dinge wirklich aufklären will, sieht man zwar auch von innen etwas. Aber der Blick von außen ist ein anderer. Weil man selbst immer blinde Flecken hat, derer man sich eben nicht bewusst ist, weil man bestimmte Dinge für selbstverständlich hält.

HNA: Wie viele Fälle sexueller Gewalt sind EKKW weit bislang bekannt? Gibt es dabei typische Muster?

Bischöfin: Wir wissen von mindestens 40 Fällen, die teils bis in die 1960er Jahre zurückreichen. Jeder einzelne Fall ist einer zu viel, ist verbunden mit unendlich viel Leid und oft lebenslangen Folgen. Bei den Tätern handelt es sich fast ausschließlich um Männer, aber nicht nur um Pfarrer, sondern auch um Küster, Diakone, Kirchenmusiker und Mitarbeiter der Jugendarbeit. Es gibt nicht das klassische Fallbeispiel, von dem man sagen könnte: Das ist das evangelische Muster.

HNA: Wie hoch ist die Dunkelziffer?

Bischöfin: Sowohl die Anerkennungskommission als auch die juristischen Gutachter vermuten, dass es bei vielen der bekannten Altfälle weitere Betroffene gibt. Und es gibt sicher auch weitere Täter, die noch nicht bekannt sind. Deshalb ist mir auch dieses Gespräch so wichtig. Wir möchten Betroffene ermutigen, sich zu melden. Sie können sich selbstverständlich auch an andere, nichtkirchliche Anlaufstellen wenden. Das mutmaßlich große Dunkelfeld wollen wir unbedingt aufklären. Aber wir können ja auch nicht in die Gemeinden gehen und sagen: Hier könnte es Fälle von sexueller Gewalt gegeben haben. Das führt zu einer Atmosphäre des Generalverdachts. Gleichzeitig gilt es aufallen kirchlichen Ebenen klar zu machen: Es gibt Menschen, die das Vertrauen, das der Kirche entgegengebracht wird, missbrauchen.

HNA: Wo sehen Sie dabei Unterschiede zur Katholischen Kirche?

Bischöfin: Mit dem Zölibat, dem Ausschluss von Frauen aus vielen Ämtern und der offiziellen Sexualmoral ist in der Katholischen Kirche Sexualität sehr stark verdrängt. In der Evangelischen Kirche gab es ab den 1960er Jahren eine gegenläufige Tendenz: gerade nicht autoritär, nicht prüde zu sein und Sexualität als Gabe Gottes zu genießen. So sind wir gewissermaßen auf der anderen Seite vom Pferd gefallen. Es gab damals Beziehungen, die als sexuelle Befreiung gesehen wurden, aber heute eindeutig als sexuell übergriffig zu werten sind.

HNA: Der Katholischen Kirche wird vorgeworfen, viele Fälle nicht zur Anzeige für eine staatliche Strafverfolgung gebracht zu haben. Gab es das auch in der Evangelischen Kirche?

Bischöfin: Es gab und gibt bei uns die klare Regel, dass bei Hinweisen auf Straftaten die Fälle zunächst an die staatliche Justiz übergeben werden. Solange diese ermittelt, dürfen wir als Kirche nichts machen, was manchmal schwer auszuhalten ist. Erst danach folgt das kirchliche Verfahren. Bei einer Verurteilung folgt immer ein Disziplinarverfahren, das etwa eine Enthebung aus dem Amt, Rentenkürzungen oder auch den Ausschluss aus der Kirche zur Folge haben kann. Ich bin erleichtert, dass dies innerhalb der EKKW in den meisten Fällenrichtig gelaufen ist, auch schon vor 20 Jahren. Allerdings ist die Struktur der Verfahren bislang sehr täterfokussiert.

HNA: Wie meinen Sie das?

Bischöfin: Im Mittelpunkt standen bislang vor allem die Konsequenzen für den Täter. Wie es den Betroffenen ging, geriet dabei oft aus dem Blick. So gibt es etwa im Disziplinarrecht keinen Nebenklägerstatus. Das heißt, Betroffene wurden einmal befragt und haben dann mitunter nie wieder von dem Verfahren und seinem Ausgang gehört. Hier gilt es neue Wege zu finden, um auch bei Disziplinarverfahren die Interessen der Betroffenen zu beachten. Eine offene Frage ist auch, wie man disziplinarrechtlich verfährt, wenn der Täter schon verstorben ist. Oftmals werden die Fälle ja erst Jahrzehnte später bekannt.

HNA: Was unternimmt die Landeskirche für eine bessere Prävention?

Bischöfin: Wir bemühen uns, klare Prozesse und Strukturen zu schaffen, wie wir mit Hinweisen umgehen. Das ist auch eines der Themen in den Präventionsschulungen, die seit vergangenem Sommer auf allen Ebenen der Kirche stattfinden. 1200 Mitarbeitende der Landeskirche haben die Schulungen bereits durchlaufen – darunter alle Pfarrerinnen und Pfarrer, alle Beschäftigten im Landeskirchenamt sowie viele aus Kirchenmusik und Jugendarbeit. Die Schulungen werden im zweiten Schritt auch auf Ehrenamtliche ausgeweitet. Wir wollen eine Kultur etablieren des Ernstnehmens von Hinweisen und der Sprachfähigkeit über dieses sensible Thema.

HNA: In der Katholischen Kirche meiden manche Priester inzwischen jeglichen körperlichen Kontakt zu Minderjährigen – selbst wenn ihnen ein Kleinkind auf den Schoß krabbelt.

Bischöfin: Das ist die große Herausforderung: nicht in eine Überreaktion zu verfallen und Berührung und Nähe unter Generalverdacht zu stellen. Die Pandemie hat uns ja deutlich gezeigt, dass wir keine kontaktlose Gesellschaft wollen.

HNA: Kommen wir noch einmal auf die Täter zu sprechen. Was bedeutet das Evangelium mit der zentralen Botschaft der Vergebung für den Umgang mit Tätern?

Bischöfin: Das ist eine theologischen Frage, der wir intensiv nachgehen. Auch hierbei gilt es genau hinzuschauen: Wir glauben, dass Gott uns unsere Schuld vergibt. Das bedeutet aber nicht, dass jemand keine Verantwortung auf Erden für seine Taten hat. Uns als Institution Kirche steht es nicht zu, einem Täter zu vergeben. Aber für uns stellt sich die große Frage nach der zweiten Chance. Auch die Justiz in Deutschland stellt ja nicht Rache und Vergeltung in den Vordergrund, sondern hat das Ziel der Resozialisierung von Straftätern. In der Vergangenheit sind wir als Kirche in einigen Fällen gewiss zu schnell mit der zweiten Chance um die Ecke gekommen. Aber müssen wir in jedem Fall sagen: Du hast hier für den Rest Deiner Tage nichts mehr zu suchen? Auch wenn glaubhaft und therapeutisch bestätigt ist, dass jemand kein Wiederholungstäter ist und es sich um eine einmalige Grenzüberschreitung gehandelt hat? Hierauf eine Antwort zu finden, ist eine Herausforderung. Klar ist: Für jede Entscheidung gilt es zu bedenken, was sie aus der Perspektive der Betroffenen bedeutet.

HNA: Lässt sich das Vertrauen in Kirche, das verloren gegangen ist, jemals zurückgewinnen?

Bischöfin: Das ist zumindest meine Hoffnung. Ich bin überzeugt, dass durch die kirchliche Arbeit, auch mit jungen Menschen, viel Gutes geschieht. Ich verstehe, wenn Menschen, die selbst betroffen sind, der Kirche nicht mehr vertrauen können. Aber ich hoffe, dass auch unsere Bemühungen und Aufarbeitung und Prävention dazu beitragen, dass Menschen uns guten Gewissens vertrauen können. Klar ist: Vertrauen kann man nicht einfordern. Es muss einem geschenkt werden. Wir können nur versuchen, unseren Job so gut wie möglich zu machen, damit wir es verdienen.