Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt

Unter Aufarbeitung verstehen wir zwei verschiedene Dinge: die wissenschaftliche Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt im Raum von Kirche und Diakonie und die Unterstützung von Menschen, die in der Vergangenheit im Raum von Kirche sexualisierte Gewalt erlitten haben.

Bisweilen kommt es vor, dass es Jahre braucht, sich ein Herz zu fassen und anderen Menschen von Erfahrungen sexualisierter Gewalt zu erzählen. Man möchte nicht wieder daran erinnert werden, das Thema ist schambesetzt. Oft haben andere Menschen einem nicht geglaubt. Und doch kommen die Erinnerungen immer wieder und melden sich (z.B. als Träume).

Vielleicht kam es sogar zu einem Gerichtsverfahren oder dieses Verfahren wurde eingestellt. Dennoch schmerzen die Erinnerungen an das erlittene Unrecht. Erlittenes Unrecht wahrzunehmen und anzuerkennen ist jedoch wichtig, auch wenn Wiedergutmachung nicht möglich ist.

Unabhängige Anerkennungskommission

Wenn Sie oder ein Familienangehöriger dies im Kontext von Kirche erlitten haben sollte und wenn dies verjährt ist, können Sie sich an die Unabhängige Anerkennungskommission unserer Landeskirche wenden, die die EKKW zu diesem Zweck eingerichtet hat. Ihr gehören ein Richter im Ruhestand, eine im Bereich Trauma erfahrene Fachfrau (bzw. Therapeutin) und eine beratungserfahrene Fachkraft an, die weisungsfrei über Unterstützungsleistungen und Anerkennungszahlungen entscheiden können.

Wie wird unterstützt bzw. anerkannt?

Die Unterstützung bzw. Anerkennung geschieht auf mehreren Wegen:

  • das Angebot zuzuhören und erlittenes Unrecht wahrzunehmen
  • die Verantwortung der Institution anzuerkennen und sich mit dem, was durch kirchliche Mitarbeitende geschehen ist, auseinanderzusetzen
  • Finanzielle Leistungen zur Hilfe und Anerkennung ihres Leids können Menschen bekommen, die glaubhaft machen, dass sie als Kinder, Jugendliche oder Heranwachsende sexuelle Übergriffe durch Mitarbeitende der Evangelischen Kirche erlitten haben und deren Ansprüche gegenüber den Tätern und den Institutionen inzwischen verjährt sind. Über die Höhe der finanziellen Leistung entscheidet eine von der Landeskirche unabhängige Kommission auf Antrag (Word-Dokument / PDF-Dokument) bzw. auf Wunsch auch nach Anhörung.
  • Vermittlung weiterer fachlicher oder anderer Unterstützung
  • Wenn gewünscht: Seelsorge und psychologische Beratung (Ansprechpersonen finden Sie hier)

Wer gehört der Kommission an?

Die Mitglieder der unabhängigen Anerkennungskommission sind:

Friedegunde Bölt
Dipl. Psych., Psych. Psychotherapeutin, Gründungsmitglied des Zentrums für Psychotraumatologie in Kassel (erreichbar per Mail: G.Boelt@web.de)

Dr. h.c. Peter Masuch
Präsident des Bundessozialgerichts a.D.
(erreichbar per Mail: p.masuch-kassel@t-online.de)

Petra Zimmermann
Dipl. Sozialpäd., Dipl. Supervisorin, Geschäftsführerin Pro Familia Kassel
(erreichbar per Mail: pz.ks@t-online.de)

(Die Richtlinie für die Arbeitsweise der Unabhängigen Anerkennungskommission der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck für Betroffene von sexualisierter Gewalt in ihrem Bereich finden Sie hier: PDF-Dokument)

Kontakt zur unabhängigen Kommission:
Alle drei Mitglieder werden über die E-Mail-Adresse anerkennungskommission@ekkw.de direkt und datenschutzsicher erreicht.

Wie kann ich mein Anliegen mitteilen?

Betroffene können zwischen verschiedenen Wegen wählen, um ihr Anliegen mitzuteilen:

  • per Antrag (Word-Dokument / PDF-Dokument) oder mündliche Darstellung; beim Ausfüllen dieses Antrags hilft das Büro der Unabhängigen Anerkennungskommission oder jede Fachberatungsstelle in unserer Region
  • durch Kontakt mit einem Mitglied der Aufarbeitungskommission, die dann den Fall einbringt
  • durch eine von den Betroffenen selbst bestimmte Vertrauensperson
    oder in Begleitung dieser Vertrauensperson
Pfarrerin Sabine Kresse

Fachstelle zum Schutz vor sexualisierter Gewalt

Pfarrerin Sabine Kresse
Leiterin
Haus der Kirche, Wilhelmshöher Allee 330, 34131 Kassel
+495619378404

So gehen wir mit dem Thema um

Die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck hat in den vergangenen Jahren viele Schritte unternommen, um sexualisierte Gewalt in ihren Gemeinden und Einrichtungen zu verhindern und Menschen, denen sexualisierte Gewalt in kirchlichen Zusammenhängen widerfahren ist, zu unterstützen. Gleichzeitig setzt sie viel daran, das Thema aufzuarbeiten und unterstützte auch das unabhängige Forschungsvorhaben ForumM, mit dem die Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland wissenschaftlich untersucht wurde.

Wichtige Fragen und Antworten:

Wie verhält sich die EKKW zu sexualisierter Gewalt?

Wir wissen, dass es auch in unserer Landeskirche sexualisierte Gewalt gab und gibt. Menschen wurde Unrecht getan und Leid zugefügt, das ihr ganzes Leben gezeichnet hat. Das ist für unsere Kirche zutiefst beschämend und empörend.

Aus diesem Wissen entsteht die Verpflichtung, dass wir uns dem Thema stellen. Dabei stehen die Interessen und Bedürfnisse der Betroffenen im Mittelpunkt: Wir hören sie und unterstützen sie individuell; ihnen gegenüber fühlen wir uns verpflichtet. Die Verantwortung, die daraus erwächst, ist uns bewusst. Wir sind ihr leider bisher nicht immer gerecht geworden. Aufarbeitung muss daher ehrlich im Blick auf unser eigenes Versagen stattfinden – dies auch im Blick auf täterschützende Strukturen. Wir stehen ein für die konsequente Aufklärung und Ahndung zurückliegender Taten. Und wir machen uns stark für klare Aufarbeitungsstrukturen.

Grundlage für weitere Aufarbeitungsschritte ist die bundesweite, unabhängige ForuM-Studie, an deren Finanzierung sich alle Landeskirchen und die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) beteiligt haben. Sie wird am 25. Januar öffentlich vorgestellt. Mehr zu Studie unter www.forum-studie.de

Was wurde bereits zum Schutz vor sexualisierter Gewalt unternommen?

Im Jahr 2019 hat die Landeskirche eine Fachstelle eingerichtet, bei der viele Fäden zusammenlaufen. Ansprechpartnerin ist Pfarrerin Sabine Kresse (Telefon: +4915116752077 oder +495619378404, E-Mail: praevention@ekkw.de).

Daneben bemüht sich die EKKW um die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der Vergangenheit. Neben der Zuarbeit für die ForuM-Studie hat sie weitere Anstrengungen für die Aufarbeitung unternommen.

Kann die Kirche wirklich ihre eigenen Fälle aufarbeiten?

Um Interessenkonflikte zu vermeiden, hat die EKKW 2019 die Unabhängige Anerkennungskommission (UAK) berufen, in der keine Kirchenmitarbeitenden sitzen. Sie besteht aus einem Richter im Ruhestand, einer Traumatherapeutin und der ehemaligen Leiterin von Pro Familia Kassel. Diese Fachleute prüfen Fälle und überlegen gemeinsam mit den Betroffenen, welche Unterstützung diese benötigen. Das kann eine finanzielle Hilfe sein, aber auch psychologische Unterstützung. Jeder Fall ist anders. Zu den Mitgliedern mit Kontaktmöglichkeiten.

Außerdem klärt die UAK, ob Fälle noch rechtlich verfolgt werden können. Bis Ende 2023 hat die Kommission 21 Menschen betreut, die im Kontext unserer Landeskirche sexualisierte Gewalt erleben mussten. An 15 Betroffene wurde eine Anerkennungszahlung in unterschiedlicher Höhe geleistet, insgesamt 481.000 Euro. Uns ist bewusst, dass das keine Wiedergutmachung sein kann, denn gutzumachen sind die Taten nicht. Es geht vielmehr um die Anerkennung erlittenen Unrechts. 

Wie viele Fälle gab es?

Für die ForuM-Studie wurden die Disziplinarakten von Pfarrpersonen sowie weitere einschlägige Unterlagen gesichtet. Gemeldet wurden 34 beschuldigte Personen, die bei der EKKW angestellt sind oder waren; für die Studie waren Fälle bis zum Jahr 2020 angefordert. Dabei handelt es sich um Fälle von sexualisierter Gewalt gegenüber Minderjährigen. Gemeldet wurden zudem 76 Fragebögen von betroffenen Personen, wobei diese Zahl nicht der tatsächlichen Anzahl der Betroffenen entspricht. Die Dunkelziffer ist deutlich höher. Die EKKW ermutigt betroffene Personen daher, sich zu melden, z.B. bei der Unabhängigen Anerkennungskommission.

Durch die Recherche kamen mehr Fälle ans Licht, unter anderem mit erwachsenen Betroffenen. Aufgrund der in der Aktenreche ermittelten sowie der laufenden und geschätzten Fälle ist nach jetzigem Kenntnisstand von 40 bis 50 Tatpersonen auszugehen. Hochgerechnet auf 800 Kirchengemeinden und Einrichtungen der Landeskirche hat es somit in jeder 20. Gemeinde bzw. Einrichtung mindestens einen Täter bzw. eine beschuldigte Person und eine oft unbekannte Anzahl von Betroffenen gegeben.

Wie kann es sein, dass niemand von den Taten gewusst haben will?

Das Thema sexualisierte Gewalt ist mit Angst und Scham besetzt. Es gibt Betroffene, die sich vor einer Retraumatisierung schützen möchten. Für andere kann der Weg in die Öffentlichkeit indes befreiend sein. Hinzu kommt eine Mischung aus Ansehen, Status und Beliebtheit: Sie führt oft dazu, dass man Vertrauenspersonen solche Taten nicht zutraut und/oder sich ein Mantel des Schweigens über das Thema legt.

Manchmal wird Betroffenen erst später klar, dass sie in dem, was sie für eine besondere Freundschaft hielten, in Wirklichkeit missbraucht wurden. Mitunter sprechen auch befreundete Menschen nicht über einen Missbrauch, den sie von einem gemeinsamen Bekannten oder Freund erfahren haben.

Im Alter der Loslösung ziehen Jugendliche Erwachsene ungern ins Vertrauen «Und wenn sie es werden, gilt leider oft die Vermutung, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Eigene Bilder über eine Person werden nicht infrage gestellt, so dass Betroffene abgewiesen und nicht ernst genommen werden», berichtet die landeskirchliche Koordinatorin Sabine Kresse.  

Was passiert bei einem Verdachtsfall?

Die EKKW nimmt jeden Verdachtsfall ernst und geht ihm nach. Jeder Fall wird der Kirchenleitung und bei strafrechtlicher Relevanz den staatlichen Stellen gemeldet (es sei denn, die Betroffenen untersagen das). Damit wird eine unabhängige, gründliche und sachbezogene Prüfung der Vorwürfe ermöglicht. Geht es um Kinder und Jugendliche, müssen oft auch das Jugendamt oder Fachberatungsstellen einbezogen werden, um das Kindswohl zu schützen.

Bei Vorwürfen gegen kirchliche Mitarbeitende werden diese in der Regel bis zum Ende eines Verfahrens vom Dienst freigestellt. Arbeits- und disziplinarrechtliche Schritte werden unabhängig vom Strafrecht geprüft. Sanktionen können auch verhängt werden, wenn ein Fall strafrechtlich bereits verjährt ist oder ein staatsanwaltschaftliches Verfahren eingestellt wird. Unsere Landeskirche erwartet von ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen ein dem Auftrag der Kirche entsprechendes Verhalten. Das kann bedeuten, dass eine sexuelle Belästigung nicht staatlich bestraft wird, aber trotzdem arbeitsrechtliche Konsequenzen hat. Sollte es hingegen zu falschen Verdächtigungen kommen, muss es eine Rehabilitation geben.

Es gibt eine Vielzahl von Ansprechstellen, wenn man einen Verdacht hat oder gar selbst sexualisierte Gewalt erleben musste. Hier ist eine Übersicht unabhängiger und kirchlicher Stellen.

Was tut die EKKW, um Missbrauch und sexualisierte Gewalt zu verhindern?

Die haupt-, ehren- und nebenamtlichen Mitarbeitenden der EKKW wurden oder werden seit 2020 geschult, um sexualisierte Gewalt bzw. die Risiken ihrer Entstehung zu erkennen und Betroffenen professionelle Unterstützung zu vermitteln. Sie haben eine Selbstverpflichtungserklärung auf einen Verhaltenskodex unterzeichnet. Seit 2020 gab bereits mehr als 2000 Schulungen für die Pfarrerinnen und Pfarrer sowie die Beschäftigten im Landeskirchenamt, in der Kirchenmusik und in der Jugendarbeit. Auch zwei Drittel der Kirchenvorstände wurden durch einen Stab von rund 30 Multiplikatorinnen und Multiplikatoren geschult. Wie so eine Schulung abläuft, können Sie hier nachlesen.

Die Landeskirche bemüht sich nach Kräften, Risiken zu minimieren, wachsam und aufmerksam zu sein. Erste Erfolge sind sichtbar: Die Zahl von Beratungsanfragen, aber auch die Meldung von Verdachtsfällen hat seit Beginn der Schulungen zugenommen. Zugleich wissen wir, dass trotz aller Bemühungen weiterhin sexualisierte Gewalt geschehen kann. Dann ist es wichtig, dass es Strukturen für die Aufklärung und Verfolgung, vor allem aber die Unterstützung Betroffener, gibt.

Das Thema sexualisierte Gewalt kommt zunehmend heraus aus der Tabuzone. Eben das wollen wir nach Kräften unterstützen.